»Es tut mir Leid«, sagte sie noch einmal. »Bitte glaub mir, das wusste ich nicht...«
Die Tränen der jungen Frau versiegten. In ihren Augen stand noch blanke Angst, aber ihre Frucht schien jetzt nicht mehr Robin zu gelten. Plötzlich tat sie etwas, das Robin im ersten Moment vollkommen überrumpelte: Sie trat auf sie zu, schloss sie in die Arme und drückte sie mit solcher Kraft an sich, dass Robin fast die Luft wegblieb. Sie versuchte nicht, sich aus der Umarmung der Sklavin zu befreien, sondern erwiderte sie, bis die Sklavin erschrocken zurücktrat, sich noch einmal mit dem Handrücken über das Gesicht fuhr, um die Tränen fortzuwischen, und dann mit einem Ruck herumfuhr und aus dem Zimmer stürmte. Diesmal war Robin fast erleichtert, das Geräusch des Riegels zu hören, der von außen vorgelegt wurde.
Omar! Der Sturm von einander widersprechenden Gefühlen, der sie seit dem gestrigen Morgen geplagt hatte, war plötzlich erloschen und in Robin war nur noch Raum für eine einzige Empfindung. Zorn. Ein kalter Zorn, der Omar galt. Sie würde Omar töten. Wenn er Naida etwas angetan hatte, wenn er Nemeth, deren Mutter oder irgendeinem der Sklaven dort unten etwas antat, wenn er auch nur die Hand gegen sie selbst hob, würde sie ihn töten - auch wenn sie dafür mit dem eigenen Leben würde bezahlen müssen. In diesem Moment erschien es ihr als ein guter Tausch. Das Leben einer Sklavin, der im Grunde genau die Zukunft bevorstand, die Naida ihr gestern prophezeit hatte, gegen das eines Ungeheuers in Menschengestalt, das vielleicht schon hundert Leben und tausend Schicksale zerstört hatte. Vielleicht hatte Gott sie ja nur aus diesem einen Grund hierher geschickt: Um diese Bestie aufzuhalten.
Langsam wandte sie sich um, ging zu dem niedrigen Tisch und ließ sich auf den weichen Teppich daneben sinken. Der Anblick der köstlichen Mahlzeit stieß sie ab. Gestern hatte Naida ihr nicht nur die Kleider, sondern auch das Essen eines gewöhnlichen Sklaven gebracht, und vermutlich war es immer noch besser gewesen als das verdorbene Zeug, mit dem Nemeth und die anderen Kerkerinsassen abgespeist wurden. Heute durfte sie wieder wie eine Fürstin speisen, aber sie brachte es nicht über sich, auch nur einen Bissen davon herunterzuwürgen. All die Köstlichkeiten auf dem Tisch - stahl sie sie im Grunde genommen nicht den hungernden Sklaven? Womöglich war bereits einer der unglücklichen Männer und Frauen dort unten im Keller verkauft worden - für die Kosten ihrer Mahlzeiten sowie ihrer luxuriösen Ausstattung. Aus irgendeinem Grund hielt Omar sie für etwas ganz Besonderes, ein Juwel in seiner ohnehin gut gefüllten Schatztruhe. Vielleicht würde er die Freude an seinem Juwel ja verlieren, wenn sie so abgemagert und blass wie die übrigen Sklaven war.
Das war zunächst ein verlockender Gedanke, aber Robin wusste gleichzeitig sehr wohl, wie albern diese Vorstellung war. Omar würde es nicht zulassen, und sie selbst würde es nicht lange aushalten. Einer von Salims Lieblingssätzen fiel ihr ein, etwas, das er oft gesagt hatte: Stolz schmeckt nicht besonders gut, und er macht nicht satt.
Dennoch ließ sie das Essen unberührt, stand auf und ging wieder zum Fenster.
Auf dem Hof herrschte hektische Betriebsamkeit. Die Pferde waren fortgebracht worden und eine Anzahl von Arbeitern hatte damit begonnen, aus den eingelagerten Balken ein hölzernes Podest zu zimmern. Auf den ersten Blick ähnelte es dem Brettergerüst unter dem Galgen, den sie gesehen hatte, als Bruder Abbé sie zu einer Hinrichtung mitgenommen hatte. Robin gestattete es sich nicht, den Gedanken, der diesem Vergleich folgte, zu Ende zu denken. Stattdessen sah sie den Arbeitern eine Weile konzentriert bei ihrem Tun zu, - nicht, weil es sie wirklich interessierte, sondern einfach, um überhaupt irgendetwas zu tun und ihre Gedanken abzulenken. Als einer der Männer zu ihrem Fenster hinaufsah, hob sie die Hand und winkte ihm zu, eine kleine Geste der Freundlichkeit einem völlig Fremden gegenüber, die ihr plötzlich ungemein wichtig vorkam. Der Arbeiter verhielt sich jedoch völlig anders, als sie erwartet hätte. Er winkte weder zurück, noch sah er freudig überrascht oder irritiert aus, sondern fuhr erschrocken zusammen und wandte sich mit einer hastigen Bewegung ab.
Für eine Weile machte sich eine sonderbare Unruhe unter den Männern dort unten breit. Niemand sah in ihre Richtung. Ohne dass Robin genau sagen konnte, wieso, spürte sie ganz deutlich, dass die Männer ganz bewusst nicht zu ihrem Fenster hinaufsahen, ja nicht einmal auch nur ungefähr in ihre Richtung blickten. Als wäre sie plötzlich keine gewöhnliche Sklavin mehr, sondern vielmehr eine Hexe, deren bloßer Anblick schlimmes Unheil oder gar den Tod versprach.
Als Robin die Tür hinter sich aufgleiten hörte, fuhr sie herum. Zunächst erwartete sie, die beiden Sklavinnen zurückkehren zu sehen, ein wenig war sie auch von der widersinnigen Hoffnung erfüllt, Naida zu erblicken. Aber ihre Angst, dass der alten Sklavin etwas wirklich Schlimmes zugestoßen sein könnte, wurde nicht besänftigt. Stattdessen betrat Omar den Raum.
Robin erstarrte mitten in der Bewegung. Der Sklavenhändler trug noch immer dieselben Kleider wie in der Nacht und sein Gesicht wirkte bleich und ein wenig kränklich. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten und als er die Tür hinter sich schloss, fiel ihr auf, dass seine Hände zitterten. Sie vermutete, dass er in der zurückliegenden Nacht keinen Schlaf gefunden hatte, und wappnete sich innerlich dagegen, nunmehr zur Zielscheibe des gleichen rasenden Zornes zu werden, der sich auf Naida entladen hatte.
Zunächst verdüsterte sich Omars Gesicht für einen Moment, als er sich ihr zuwandte und sie mit schräg gehaltenem Kopf aufmerksam musterte. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck, trat zwei Schritte näher, und auf seinen sonnengebräunten Zügen erstrahlte ein mildes und durch und durch erfreut wirkendes Lächeln.
»Mein Herz erblüht, nun, da ich dich unversehrt sehe, Robin«, sagte er. »Man hat mir berichtet, dass du nach Meister Ribauld geschickt hast? Du bist doch nicht etwa krank?«
Die Frage kam Robin nicht geheuchelt vor - obwohl er zweifellos ganz genau wusste, was sich am vorigen Abend zugetragen hatte. Überhaupt verwirrte sie nicht allein Omars Betragen, sondern viel mehr noch ihre eigene Reaktion darauf. Wie immer, wenn sie dem Sklavenhändler gegenüberstand, erfüllte sie sein Anblick mit einer Mischung aus Zorn, Furcht und Abscheu, aber immer war da auch noch etwas anderes; ein Gefühl, dessen sie sich fast schämte: Sie war nahezu erleichtert, ihn unversehrt vor sich zu sehen. Nach dem, was sie vor wenigen Stunden vom Fenster aus beobachtet hatte, hätte sie keinen Herzschlag zögern sollen, Omar eigenhändig zu töten. Und dennoch: Dieser Mann, der dort vor ihr stand, sah nicht wie ein grausamer Schlächter aus; vielmehr ähnelte er dem kleinen Jungen, den Ribauld gestern behandelt hatte. Omar wirkte erschöpft, fast hilflos. Und seine Sorge um sie war nicht geheuchelt. Hatten er und seine Männer deshalb letzte Nacht ihre Pferde fast zuschanden geritten?
Hastig verscheuchte Robin diese Gedanken und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln - einem verunglückten, wie sie befürchtete. Die Frage nach Naidas Zustand lag ihr auf der Zunge, aber nach kurzem Zögern entschied sie sich dafür, dieses Thema besser nicht anzuschneiden. Noch wusste sie nicht, was Omar von ihr wollte, sicherlich war er nicht gekommen, um sich mit ihr zu unterhalten. Deswegen deutete Sie zum Fenster hin und fragte: »Was wird dort unten gebaut?«
»Nichts, was dich interessieren müsste«, antwortete Omar, während er gemächlich ans Fenster ging und dann einen scheinbar desinteressierten Blick auf den Hof hinaus warf. »In einem so großen Haus wie diesem wird ständig irgendetwas gebaut oder repariert.«
»Warum haben die Männer dort unten dann Angst vor mir?«
Omar wandte den Kopf. Ein amüsiertes Funkeln glomm in seinen Augen. »Angst?«, fragte er lächelnd, als redete sie von etwas völlig Absurdem.
»Anscheinend haben sie zumindest Angst, mich anzusehen«, erklärte Robin.
»Vielleicht fürchten sie, dass der Anblick deiner Schönheit sie blind macht«, antwortete Omar. Das Funkeln in seinen Augen wurde heller. »Oder ihnen zumindest den Seelenfrieden raubt.«