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Robin blieb noch einige Augenblicke lang mit klopfendem Herzen unter der Tür stehen, dann wandte sie sich um und kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie würde, nein, sie musste diese Gelegenheit nutzen, um ihr Gefängnis zu erkunden. Und wenn die Jungfrau Maria, Gott und die Heiligen auf ihrer Seite waren, dann hatte sie jetzt vielleicht sogar die Gelegenheit, sich in den Keller zu Nehmet hinunterzuschleichen. Und das war ihr wichtiger denn je, denn Naida hatte ihre Drohung wahr gemacht: Robin hatte das Mädchen seit ihrer ersten Begegnung im Keller nicht mehr zu Gesicht bekommen und die alte Obersklavin hatte ihre Nachfragen und ihr Drängen nur mit einem unerbittlichen Schweigen quittiert.

Noch wagte Robin nicht, in die Dunkelheit zu schleichen. Vielleicht war der Krieger ja nur für einen Moment fortgegangen, um irgendeinen Befehl auszuführen oder einem menschlichen Bedürfnis nachzukommen, und da waren auch noch Haruns Worte, wonach es Zeit für das abendliche Gebet war.

Unter der Abeiya, dem schwarzen Umhang, der zu ihrer Kleidung gehörte, und dem Schleier würde zwar niemand ihr Gesicht erkennen, aber sie hatte über die Stellung der Frauen in diesem Teil der Welt mittlerweile genug gelernt, um zu wissen, dass sie sich nicht einfach frei durch dieses Haus bewegen und davon ausgehen konnte, dass niemand sie ansprach. Wenn sie die Gelegenheit nutzen wollte, die das Schicksal ihr so unverhofft bot, würde sie abwarten müssen, bis es vollkommen dunkel war.

Was hierzulande gottlob nicht lange dauerte. Dennoch schien die Zeit kein Ende zu nehmen. Mehr als einmal glaubte Robin, draußen auf dem Gang die Schritte des Wächters zu hören, der zurückkam, um seinen Posten wieder einzunehmen. Doch es war nur ihr eigener Herzschlag, der sie erschrocken aufhorchen ließ.

Endlich senkte sich die Dunkelheit über die Stadt. Robin trat noch einmal zum Fenster und sah hinaus. Der Innenhof war leer, und es brannte nur eine einzelne Fackel. Robin entzündete die beiden Öllampen, die auf dem Tischchen neben der Tür standen, nur für den Fall, dass Omar oder ihr persönlicher Wächter unten auf dem Hof entlanggehen und sich wundern würden, wieso hinter ihrem Fenster kein Licht brannte.

Rasch legte sie Schleier und Abeiya an, verließ ihr Zimmer und schlich auf den Gang, der zur Treppe führte. Es war so dunkel, dass Robins Augen nur vage Schatten wahrnahmen. Im Haus herrschte vollkommene Stille. Irgendwo in der Stadt begann ein Muezzin das Abendgebet vom Minarett herabzurufen. Bald fielen noch weitere Sänger in den seltsam klagenden Ruf des Vorbeters ein. Robin lauschte ihnen einen Moment, um herauszufinden, wie lange ihre Gnadenfrist währen würde. Doch leider hatte sie sich niemals weit genug für den Glauben der Muselmanen interessiert, um aus dem Gebet in einer ihr schwer verständlichen Sprache die richtigen Rückschlüsse ziehen zu können. Immerhin wusste sie, dass die Muslime mehrmals am Tag beteten, dafür aber nicht sehr lange.

Ihr blieb also nicht viel Zeit, wenn sie ins Sklavenverlies hinunter und zu Nemeth gelangen wollte. Über den Rückweg machte sie sich keine Gedanken. Sie hoffte, dass ihr nicht viel geschehen würde, selbst wenn man sie ertappte. Mit dem, was Omar ihr am Morgen verraten hatte, hatte er vielleicht die Absicht verbunden, sie aufzumuntern und ihr jeden Grund für eine ebenso riskante wie aussichtslose Flucht zu nehmen, aber er hatte ihr damit auch indirekt mitgeteilt, dass sie praktisch Narrenfreiheit hatte. Omar würde sich hüten, seinem nach seinen eigenen Worten wertvollsten Besitz einen Schaden zuzufügen.

Als sie weitergehen wollte, hörte sie Schritte.

Robin geriet nicht in Panik; wie zur Salzsäule erstarrt blieb sie einen Moment mit angehaltenem Atem stehen und lauschte. Ihr Herz klopfte so laut, dass es ihr für zwei oder drei Atemzüge schwer fiel, sich auf das andere Geräusch zu konzentrieren. Die Schritte waren jedoch unüberhörbar. Sie kamen von unten und näherten sich - nicht sehr schnell, aber unaufhaltsam. Robin wich einen Schritt in den Flur zurück und sah sich gehetzt um. Ihr würde mehr als genug Zeit bleiben, um in ihr Zimmer zurückzugehen und die Tür hinter sich zu schließen, aber sie bekam vielleicht nie wieder eine Gelegenheit wie diese. Wie Harun gesagt hatte, waren es nur noch zwei Tage bis zum Sklavenmarkt. Wenn sie tatsächlich eine Flucht wagen wollte, dann musste es in dieser oder spätestens in der darauf folgenden Nacht geschehen.

Robin zögerte noch einen kurzen Moment, dann steuerte sie die erstbeste Tür an. Vermutlich war der dahinterliegende Raum leer. Schlimmstenfalls würde sie dort eine Schicksalsgefährtin vorfinden, die sie hoffentlich nicht sofort verraten würde. Vorsichtig öffnete sie die Tür, huschte lautlos durch den Spalt und drückte sie ebenso vorsichtig hinter sich wieder ins Schloss.

Das Zimmer, in dem sie sich befand, war ebenso prächtig eingerichtet wie ihr eigenes, nur ein gutes Stück größer. Es lag fast völlig im Dunkeln, aber Robin konnte immerhin erkennen, dass das Fenster an der gegenüberliegenden Wand vergittert war. Nur neben dem Bett, einem gewaltigen hölzernen Gestell mit einem weit ausladenden Stoffhimmel aus halb durchsichtigen Seidenschleiern, glomm der kurze Docht einer Öllampe. Sie hatte das Gefühl, hinter den dünnen Seidentüchern ein schweres, röchelndes Atmen zu hören, war sich jedoch nicht ganz sicher, ob es nicht nur ihre überreizte Fantasie war, die ihr einen Streich spielte.

Zumindest schien niemand von ihrem Eintreten Notiz genommen zu haben. Nun, wo sie einmal so weit gekommen war, konnte sie den Raum ebenso gut auch genauer in Augenschein nehmen. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an das graublaue Dämmerlicht, das hier drinnen herrschte. Obwohl sie auch jetzt kaum mehr als Schemen wahrnahm, hatte sie das vage Gefühl, dass dieser Raum persönlicher eingerichtet war als der ihre, so als habe sein Bewohner die Möbel und Stoffe über Jahre sorgfältig ausgesucht und zusammengetragen. Auf einem niedrigen Tischchen neben dem Bett entdeckte sie eine Ansammlung kleiner Tiegel, Pinsel, flacher Holzspatel und anderer Schminkutensilien sowie einige Schmuckstücke, auf denen sich das Licht der Öllampe brach.

Ihre erste Einschätzung schien richtig gewesen zu sein: Sie befand sich im Zimmer einer Frau, sicher einer anderen Sklavin. Vorsichtig löste sie sich von ihrem Platz an der Tür und schlich auf das Bett zu. In Gedanken tat sie Harun und Aisha Abbitte für alles, was sie in den letzten Tagen über sie gedacht und nur zu oft auch laut gesagt hatte. Harun würde niemals eine Tempeltänzerin aus ihr machen, doch kam ihr der Unterricht nun zustatten, denn sie vermochte sich spürbar leichtfüßiger und damit auch lautloser zu bewegen. Ohne auch nur das mindeste Geräusch zu verursachen, huschte sie zum Bett, verharrte noch einmal mit angehaltenem Atem, um eine Sekunde lang zu lauschen, und zog dann behutsam den Vorhang auseinander.

Um ein Haar hätte sie aufgeschrien.

Bleich wie das Antlitz einer Toten, von kaltem Schweiß bedeckt und mit eingefallenen Wangen blickte ihr im fahlen Licht der Öllampe Naidas Gesicht entgegen. Es wirkte um Jahre gealtert. Das flackernde Licht des fast heruntergebrannten Dochtes ließ die unzähligen Falten in ihrer Haut wie tiefe Messerschnitte erscheinen, und obwohl sie Robin aus weit aufgerissenen Augen anstarrte, schien sie sie nicht wirklich zu sehen. Ihr linkes Auge war nahezu zugeschwollen, die Haut darunter aufgeplatzt, und wie man es oft bei alten Leuten beobachten konnte, wollte sich die Wunde offenbar nicht schließen. Der fingerlange Riss von dem Schlag, den Omar ihr tags zuvor versetzt hatte, nässte noch immer und in der Kruste aus Schorf schimmerten winzige frische Blutströpfchen.