Ihr Zusammenspiel war erstaunlich. Sie blieben stets dicht beieinander, und wenn der eine mit den Flügeln schlug, ahmte der andere die Bewegung sogleich nach, ebenso wie keiner ein Zwitschern anstimmen konnte, ohne dass der andere es unverzüglich beantwortete.
Sosehr der Anblick der possierlichen kleinen Tierchen Robin auch erfreute, so fragte sie sich doch, warum der Sklavenhändler sie ihr zum Geschenk gemacht hatte. Es gab für Omar keinen Anlass, ihr eine Freude zu machen, ganz im Gegenteil. Und wenn sie eines von diesem Mann zu wissen glaubte, dann, dass er nichts ohne Grund tat.
In das Zwitschern der beiden Vögel mischten sich vom Hof her aufgeregte Rufe und dann ein zorniger Schrei. Robin drehte den Kopf und sah in das ummauerte Geviert hinab, in dem das Lärmen und Hämmern auch den ganzen Vormittag über angehalten hatte. Sie war nicht ein einziges Mal ans Fenster getreten, um nicht aus Versehen noch mehr Schaden anzurichten, als es vielleicht bereits geschehen war. So war sie ein wenig überrascht, dass die Zimmerleute ihre Bauarbeiten offensichtlich schon vollendet hatten. Direkt neben dem Eingang zum Haus war ein solides, mehr als einen Meter hohes Podest aus hölzernen Balken errichtet, und daneben hatte man etliche Bänke aufgestellt. Im Moment waren Sklaven damit beschäftigt, ein Sonnendach aus weißem Segeltuch auf dem Podest zu errichten und aus zurechtgesägten Brettern eine Treppe auf der Türseite zu zimmern. Das Ganze erinnerte Robin an die Bühne für ein Weihnachtsspiel, das sie im vergangenen Winter in Nürnberg gesehen hatte.
Die aufgeregten Rufe und das wütende Geschrei hielten an, aber Robin konnte ihre Ursache ebenso wenig ausmachen wie ihre Verursacher. Der Hof war voller Männer und Frauen - Omars Diener und Wachposten, zum größten Teil jedoch Sklaven, die hektisch mit den letzten Vorbereitungen für was auch immer beschäftigt waren. Robin beugte sich ein wenig weiter vor, von der vagen Hoffnung erfüllt, Nemeth oder ihre Mutter, möglicherweise gar Naida zu sehen, aber sie erblickte nur ein paar Gesichter, die ihr vage bekannt vorkamen. Es waren Bewohner des Fischerdorfes, die sie nur ein- oder zweimal gesehen hatte. Dann fiel ihr doch eine bekannte Gestalt auf, und als hätte der Mann, der ihr bisher den Rücken zugewandt hatte, ihren Blick gespürt, drehte er sich herum, legte den Kopf in den Nacken und starrte zu ihr hoch.
Ganz instinktiv wich Robin einen halben Schritt vom Fenster zurück, so weit, dass sie gerade noch ins Gesicht des Sklaven blicken konnte. Es war Mustafa, Sailas Mann, der Fischer, den sie niedergeschlagen hatte und der deshalb vor den anderen Bewohnern des Dorfes das Gesicht verloren hatte. Robin spürte, dass er trotz des Schleiers vor ihrem Gesicht ganz genau wusste, wen er vor sich hatte. Und sie spürte auch seinen Hass. Er hatte die Schmach, die sie ihm zugefügt hatte, nicht vergessen, und vermutlich gab er ihr auch die Schuld an dem Schicksal, das ihn, seine Familie und sein ganzes Dorf getroffen hatte. Robin hatte nicht die Kraft, seinem Blick noch länger Stand zu halten. Sie wich zwei weitere Schritte in ihr Zimmer zurück, und wartete eine ganze Weile, ehe sie es erneut wagte, neben den Vogelkäfig ans Fenster zu treten.
Der Fischer war nun nicht mehr zu sehen. Die Sklaven waren damit beschäftigt, ein großes Sonnensegel über den Hof zu spannen, sodass die Bänke im Schatten lagen. Andere trugen Teppiche und Kissen herbei, um die unbequemen Sitzflächen der Holzbänke zu polstern. Auch die beiden Zimmerleute, die hastig eine Treppe zur Bühne hinauf bauten, waren mit ihrer Arbeit fast fertig. Nur auf der anderen Seite, zwischen dem Podest und der äußeren Mauer des Hofes, lehnten noch einige lange Balken an der Wand.
Die Hektik unten auf dem Hof hielt noch eine ganze Weile an, aber schließlich schienen alle Vorbereitungen getroffen, denn die Sklaven und Arbeiter zogen sich rasch zurück und nur einige bewaffnete Posten blieben. Robin stand jetzt wieder nahe am Fenster und blickte hinab, aber niemand sah auch nur in ihre Richtung. Mit Ausnahme des Fischers schien jedermann in diesem Haus zu wissen, welches Schicksal ihm bevorstand, wenn er Omars wertvollsten Besitz auch nur mit einem flüchtigen Blick streifte.
Auf diese Weise verging sicherlich eine halbe Stunde, wenn nicht mehr. Robin vertrieb sich die Zeit damit, den Vögeln zuzusehen, die nicht müde wurden, in ihrem Käfig von einer Stange auf die andere zu hüpfen, dem hellen Tag draußen vor dem Fenster zuzuzwitschern oder nach ihrem Futter zu picken, das in einer kleinen goldenen Schale auf dem Boden des Käfigs stand. Sosehr sie der Anblick auch erfreute, so sehr schnürte es ihr auch die Kehle zusammen, jedes Mal, wenn einer der Vögel mit den Flügeln schlug und von dem feinmaschigen Holzgeflecht daran gehindert wurde, sie wirklich zu gebrauchen. Robin hatte niemals, schon als Kind nicht, verstanden, warum man Vögel in Käfigen hielt. Sie begriff durchaus, dass Menschen sich an ihrem Anblick und besonders an ihrem Gesang erfreuen konnten, aber das gab niemandem das Recht, einem Vogel das Fliegen zu verbieten. Ebenso gut konnte man einem edlen Rennpferd die Beine brechen, damit man es besser im Stall beobachten konnte.
War das vielleicht der wirkliche Grund für Omars Geschenk? Robin ertappte sich dabei, dass etwas in ihr geradezu krampfhaft nach einer versteckten Bosheit suchte, die sie dem Sklavenhändler anlasten konnte. Und entsprach es nicht tatsächlich der Wahrheit? Omar hatte ihr nicht wirklich eine Freude machen wollen. Das Schicksal dieser Vögel war ihr eigenes. Der Käfig, in dem sie gefangen war, hatte keine Gitterstäbe, und wenn, so würden sie aus Gold sein, und die Ketten, die sie hielten, mit Edelsteinen besetzt. Hatte er ihr nicht bereits die Flügel gebrochen?
Geräusche vom Tor her rissen sie aus ihren Gedanken. Robin wandte sich vorsichtig und von der Seite her wieder ganz dem Fenster zu. Das große Sonnensegel, das quer über den Hof gespannt war, nahm ihr teilweise die Sicht, aber sie erkannte, dass das zweiflügelige Tor geöffnet worden war. Einen Moment später trat der Sklavenhändler in Begleitung des ganz in Schwarz gekleideten Kriegers ein, der bisher Robins Zimmer bewacht hatte.
Sie waren nicht allein. Nach und nach füllte sich der Hof mit sicher zwei Dutzend Männern, wenn nicht mehr. Robin konnte sie jeweils nur kurz beobachten, bevor sie unter dem Sonnensegel verschwanden, um auf den Bänken Platz zu nehmen. Es handelte sich offensichtlich um Kaufleute und andere einflussreiche Männer. Fast alle waren in kostbare Gewänder gehüllt und die meisten wurden von einem oder sogar mehreren bewaffneten Kriegern begleitet. Robin hatte ein ungutes Gefühl. Sie begann zu ahnen, was sich dort unten auf dem Hof gleich abspielen würde.
Es verging eine geraume Weile, bis auch der letzte Gast eingetroffen und das Tor hinter ihm geschlossen worden war. Auf einen Befehl Omars hin - Robin konnte ihn so wenig sehen wie die meisten anderen, aber sie erkannte seine Stimme - brachten Sklavinnen silberne Becher mit Wasser und Platten mit Weintrauben, Datteln und frischem Fladenbrot, mit denen sie unter dem Segeltuch verschwanden.
Schließlich klatschte jemand laut und befehlend in die Hände und die gemurmelten Gespräche unter dem Sonnendach verstummten. Robins Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Während sie die rechte Hand auf den Vogelkäfig stützte, als wäre die Nähe der beiden winzigen Lebewesen darin das Einzige, was ihr überhaupt noch den Mut gab, hier zu stehen, beugte sie sich vorsichtig weiter vor, um einen Blick auf das Podest neben der Tür zu werfen.
Genau in diesem Moment brachten zwei von Omars Kriegern eine junge, nur in ein langes weißes Leinentuch gehüllte Frau aus dem Haus und zerrten sie auf die Bühne. Sie wehrte sich nicht, aber sie wirkte unsicher und so verängstigt, dass sie auf den drei Stufen nach oben fast gestürzt wäre. Die beiden Wachen stießen sie grob vor sich her und von der anderen Seite her sprang ein weiterer Mann auf das Podest - ein hagerer Kerl mit einem dunkelblauen, mit weißen Stickereien geschmückten Kaftan. Er war Robin auf den ersten Blick unsympathisch. Dem spitzen Gesicht mit dem stoppeligen Bart und den funkelnden Augen haftete etwas an, das sie an eine Ratte erinnerte.