Sie hörte das Geräusch der Tür hinter sich und erkannte allein am Klang der Schritte, dass es Harun und Aisha waren, die zur täglichen Unterrichtsstunde kamen. Sie drehte sich jedoch nicht zu den beiden um, sondern beobachtete zugleich gebannt und angewidert weiter das Geschehen auf dem Hof. Ihr war längst klar, was dort vor sich ging, aber irgendetwas in ihr weigerte sich immer noch, die Tatsachen anzuerkennen. Es war eine Sache, etwas zu wissen, selbst jenseits allen Zweifels, und eine völlig andere, es mit eigenen Augen zu sehen.
»Christenmädchen! Was gibt es aus dem Fenster zu gaffen? So etwas gehört sich nicht für eine Dame!«, erscholl Haruns Stimme hinter ihr. Ihr Klang war ungewohnt scharf, aber Robin machte sich nicht einmal die Mühe, ihm etwas zu entgegnen.
Der rattengesichtige Mann hatte sich bisher geduldet und darauf gewartet, dass die beiden Krieger das Sklavenmädchen zu ihm brachten. Nun aber machte er eine herrische Geste, woraufhin einer der Krieger der jungen Frau einen so derben Stoß versetzte, dass sie die letzten beiden Schritte auf ihn zustolperte und auf die Knie fiel. Das Gesicht des Arabers umwölkte sich. Er trug eine kleine Peitsche in der Hand, die viel zu zierlich schien, um mehr als symbolischen Charakter zu haben. Grob, fast schon brutal, zerrte er die Sklavin in die Höhe und zwang sie, sich aufzurichten, dann packte der Krieger, der das Mädchen gerade zu Boden gestoßen hatte, so fest bei den Oberarmen, dass es einen Schmerzlaut ausstieß.
Robin fuhr heftig zusammen, so als spürte sie den harten Griff des Mannes selbst. Sie war nur noch einen Deut davon entfernt, herumzufahren und aus dem Zimmer zu stürmen, um hinunter auf den Hof zu laufen und diesen brutalen Mistkerl in seine Schranken zu verweisen. Doch selbst ohne Harun und Aisha in ihrem Rücken und selbst wenn die Tür offen und der Hof nicht voller Krieger gewesen wäre, hätte ein solches Unternehmen an Selbstmord gegrenzt. Auf jeden Fall würden durch eine solche Dummheit ihre ohnehin verzweifelten Fluchtpläne endgültig vereitelt. Robins Finger schlossen sich so fest um die Gitterstäbe des Vogelkäfigs, dass das feine Holzgeflecht hörbar knirschte, und vielleicht zum ersten Mal war sie dankbar für den Schleier vor ihrem Gesicht, der ihre wahren Gefühle verbarg. Harun war nahezu lautlos neben sie getreten; eher spürte sie seine gewaltige Körpermasse, als dass sie seine Schritte hörte.
Unten auf dem Hof ließ der hagere Araber noch einige Augenblicke verstreichen, dann scheuchte er den Krieger mit einer nachlässigen Bewegung seiner Spielzeugpeitsche fort. Er trat zu dem zitternden Mädchen und legte ihm die Hand unter das Kinn, um ihren Kopf auf diese Weise in die Höhe zu zwingen, damit alle Anwesenden ihr Gesicht betrachten konnten. Robin fuhr erneut zusammen, als sie die junge Frau erkannte. Es war eine der Sklavinnen, die sie unten im Verlies gesehen hatte, eine der Frauen aus dem Fischerdorf.
»Es ist nicht deine Schuld, Robin«, sagte Harun neben ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Jede Spur von Spott, alle Überheblichkeit und jede gespielte Verzweiflung waren aus seiner Stimme gewichen. Sie klang plötzlich so mitfühlend und sanft, wie Robin sie noch nie von ihm gehört hatte. Aber seine Worte brachten keinen Trost; er sprach nur aus, was auch die Stimme der Vernunft ihr zu sagen versuchte. Sie war einfach nicht in der Lage, mit dem Gefühl von Schuld fertig zu werden, das dieser unwürdige Anblick in ihr auslöste, und auch Harun konnte ihr diese Last nicht abnehmen.
Der Sklavenhändler auf dem Podest begann mit einer wohlklingenden, klaren Stimme zu sprechen: »Dieses junge, kräftige Weibsstück kommt aus einem Fischerdorf an der Küste. Sie hat starke Hände und ist harte Arbeit gewöhnt. Ihr fügsames Wesen macht sie zu einer guten Dienerin in Haus und Küche. Sie ist gesund, hat kein Ungeziefer in den Haaren und besitzt noch fast alle Zähne.«
Mit einer überraschenden Bewegung riss er der jungen Frau das Leinentuch vom Leib. Die Sklavin stieß einen Schrei aus und versuchte, mit den Händen ihre Blöße zu bedecken. Aber ihr Peiniger lachte nur, trat mit einem Schritt hinter sie und hielt ihre Arme mit nur einer Hand auf dem Rücken zusammen. In hämischem Ton fuhr er fort, ihren kräftigen Körper anzupreisen, wie ein Viehhändler auf dem Markt eine gut gewachsene Kuh anbieten würde. Robins Augen füllten sich mit Tränen der Wut, als sie hörte, wie er als erstes Gebot zwanzig Dinar einforderte.
Harun neben ihr sagte irgendetwas, aber sie verstand die Worte nicht mehr. Für einen Moment schien sich alles um sie herum zu drehen. Ihre Knie zitterten und das Herz hämmerte ihr bis in den Hals. Die Welt ringsum schien zu erlöschen, und es gab nur noch diesen winzigen Hof voller gieriger alter Männer, die das hilflose Mädchen auf dem Podest anstarrten. Erschüttert und von einer hilflosen Wut erfüllt, die fast körperlich schmerzte, musste sie mit ansehen, wie verschiedene Kaufinteressenten auf die Bühne hinaufstiegen und die junge Frau eingehend untersuchten. Sie zwangen ihre Lippen mit dem Daumen auseinander, um ihre Zähne zu begutachten, kniffen in Oberarme und Schenkel, um die Festigkeit ihrer Muskeln zu prüfen, und schließlich brachten die Wachen unterschiedlich schwere Säcke und gefüllte Wasserkrüge herbei, die sie hochheben musste, um ihre Kraft unter Beweis zu stellen.
Robin war unbeschreiblich angewidert von der Szene und sie machte ihr mit jedem Moment mehr Angst. Vor ihrem inneren Auge erschien Omars lächelndes Gesicht, aber sie holte die Worte, die er ihr bei seinem letzten Besuch gesagt hatte. In zwei Tagen - oder vielleicht schon morgen - würde sie vielleicht selbst dort unten stehen, um gedemütigt zu werden und sich von feisten alten Männern begrapschen zu lassen.
Aber das würde nicht geschehen. Sie würde fliehen, noch heute, und wenn es ihr nicht gelang, dann würde sie sich eher das Leben nehmen, bevor sie zuließ, dass man auch sie auf das Holzgerüst dort unten zerrte.
Harun legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Robin fuhr erschrocken zusammen, und für einen Moment musste sie gegen den Impuls ankämpfen, herumzufahren und seine Hand beiseite zu schlagen. Dann wurde ihr bewusst, dass Harun sie plötzlich auf eine völlig andere Art berührte als zuvor. Er wollte sie trösten, wollte durch diese Geste ausdrücken, was Worte nicht sagen konnten.
»Warum tust du dir das an, Kind?«, fragte Harun. »Komm vom Fenster weg. Quäle dich nicht.«
Robin drehte sich nun doch herum und streifte seine Hand ab, aber sie tat es langsam, fast sanft, und Harun nahm ihr die Bewegung nicht übel. In seinen Augen erschien für einen kurzen Moment ein ungeahnter Ausdruck von Wärme.
Trotzdem zitterte ihre Stimme vor unterdrücktem Zorn und Schmerz, als sie antwortete: »Warum nicht? Schließlich werde ich spätestens morgen wohl selbst dort unten stehen, nicht wahr?«
»Unsinn!«, widersprach Harun. Er machte eine Kopfbewegung zum Fenster. »Das da ist für einfache Sklaven. Du bist...«
»... ein wertvolleres Gut?«, unterbrach ihn Robin zornig. Plötzlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, aber es waren nicht Tränen des Schmerzes, sondern der Wut. »Wahrscheinlich bin ich zu kostbar, um mich zu verärgern, wie? Was habt Ihr mit mir vor? Wollt Ihr mich auf ein Podest aus Gold stellen und mein Verkäufer wird eine mit Diamanten besetzte Peitsche tragen?« Ihre Stimme war voller Bitterkeit, aber Harun zeigte sich von ihren Worten nicht beeindruckt. Er schüttelte den Kopf und antwortete mit milder, väterlich klingender Stimme: »Ich kann dich verstehen, Robin, aber es ist nicht so, wie du denkst.«
»Ach? Was denke ich denn? Was glaubst du wohl, was ich denke, Harun al Dhin? Dass alle Moslems Barbaren und gottlose Unmenschen sind? Dass ihr Menschen wie Vieh behandelt, wie etwas, das man benutzt und wegwirft, wenn man es nicht mehr braucht? Wenn du glaubst, dass es das ist, was ich denke, dann hast du Recht. Aber ich denke noch mehr, weißt du! Ich wünsche mir, dass die Templer, die Johanniter und der König von Jerusalem mit Feuer und Schwert über all eure Städte herfallen und sie niederbrennen.«