10. KAPITEL
Robins Entschluss, zu fliehen oder bei dem gescheiterten Versuch zu sterben, wurde im Verlaufe des Tages fast zur Besessenheit. Die Sklavenauktion dauerte bis zum Einbruch der Dämmerung an. Nachdem Harun und Aisha gegangen waren, kostete es Robin all ihre Kraft und Überwindung, wieder ans Fenster zu treten und dem entsetzlichen Schauspiel weiter zuzusehen. Doch nachdem sie es einmal getan hatte, konnte sie sich von dem entwürdigenden Anblick auch ebenso wenig wieder losreißen. Sie stand den ganzen Tag am Fenster, wandte sich weder um, als die Sklavinnen später kamen, um ihr zu essen zu bringen, noch als Omar irgendwann einmal unter dem Sonnendach hervortrat und ihr einen langen, eisigen Blick zuwarf. Sie beobachtete, wie gut die Hälfte der Männer und Frauen aus dem Fischerdorf verkauft wurden. Vermutlich war das weit mehr als die Hälfte der Sklaven, die sich noch in Omars Kellern befanden, denn zweifellos waren mittlerweile etliche von ihnen gestorben oder zu schwach, um hier und heute verkauft zu werden. Robin musste mit ansehen, wie Familien auseinander gerissen, Männer von Frauen und Söhne von Vätern getrennt wurden. Auch Saila und Nemeth wurden irgendwann im Laufe des Nachmittags auf das Podest gezerrt, aber zu Robins Erleichterung wollte niemand das Mädchen oder seine Mutter kaufen.
Schließlich brach die Dämmerung herein und die letzten Kaufinteressenten verließen mit ihren neu erworbenen Sklaven den Hof. Eine schwere Kette wurde vor das große Tor gelegt und Omars Krieger entzündeten ein gutes Dutzend. Fackeln, die sie in geschmiedete Halterungen an den Wänden aufhängten, sodass es dort unten die nächsten Stunden über hell bleiben würde. Das war ungewöhnlich, und Robins Mut sank weiter - nicht jedoch ihre Entschlossenheit. Ihr war klar, dass die Versteigerung am nächsten Morgen weitergehen würde, und möglicherweise würde auch sie - trotz all der Beteuerungen Haruns sowie Omars - schon am nächsten Morgen selbst dort unten stehen. Nein, sie hatte keine Wahl. Sie musste noch in dieser Nacht ausbrechen.
Auch nachdem es dunkel geworden war, blieb sie weiter am Fenster stehen und starrte die Schwärze an, in der sich die Stadt jenseits des von rotem Fackellicht erfüllten Rechtecks des Hofes verbarg. Selbst wenn es ihr gelang, aus dem Haus auszubrechen, woran sie im Grunde nicht zweifelte, so wartete die größte Herausforderung in dieser lichtlosen Schwärze dort hinten auf sie. Wohl hatte sie sich den Anblick der Stadt von ihrem Fenster aus eingeprägt, so gut sie konnte. Doch war es nur ein winziger Ausschnitt einer Stadt, die objektiv gesehen vielleicht nicht einmal besonders groß sein mochte, für eine Fremde jedoch ein schier endloses Labyrinth voller unbekannter Straßen, Menschen und Gefahren darstellte. Das Quäntchen Vernunft, das sich dann und wann noch in Robins Gedanken zu Wort meldete, machte ihr mit brutaler Deutlichkeit klar, dass sie im Begriff stand, Selbstmord zu begehen. Selbst wenn sie wider alle Logik das Kunststück fertig bringen sollte, nicht nur aus diesem Haus, sondern sogar aus der Stadt zu entkommen, besserten sich ihre Aussichten dadurch nicht wirklich. Sie war eine Christin in einem muslimischen Land, eine Frau auf einem Kontinent, wo Frauen kaum allein in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Sie wusste nichts über diese Menschen hier, nichts über die nächste Stadt, ja, nicht einmal, in welche Richtung die nächste Straße führte. Der Weg hier heraus war mit ziemlicher Sicherheit der Weg in den Tod.
Aber vielleicht war es ja gerade das, was sie insgeheim wollte. Robin fragte sich, ob die zwei Jahre, die sie in Bruder Abbés Komturei verbracht hatte, vielleicht nicht doch mehr Wirkung zeigten, als sie zugeben wollte. Sie hatte sich an diesem Tage mindestens hundertmal gesagt, dass sie den Freitod einem Leben wie das, was sie am morgigen Tag erwartete, vorziehen würde. Und dennoch schreckte etwas in ihr vor diesem Gedanken zurück.
Sie fragte sich, was Salim ihr in einer Situation wie dieser geraten hätte, und für einen Moment glaubte sie sein Gesicht vor sich zu sehen, seine Augen, in denen immer ein verständnisvolles, zärtliches Lächeln glomm, ganz gleich, wie schlimm die Situation auch war oder wie sehr sie ihn herausgefordert hatte. Was würde er sagen?
Sie wusste es nicht. Sie wusste, dass Salim ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern sein eigenes Leben geopfert hätte, um das ihre zu retten. Aber würde er mit dem Gedanken leben können, sie in Sklaverei zu wissen? Im Besitz eines anderen, auf Gedeih und Verderb seiner Willkür, den schlimmsten Demütigungen ausgeliefert, in der ständigen Bedrohung, vielleicht verkauft zu werden wie ein abgetragenes Kleidungsstück, wenn sie ihrem neuen Herrn nicht mehr gefiel, oder eines Tages auf die gleiche Weise bestraft zu werden wie Aisha?
Nein, sie konnte diese Frage nicht beantworten. Robin hob die linke Hand und ließ den schmalen Goldring an ihrem Mittelfinger im roten Licht aufblitzen, das vom Hof heraufdrang. Der Anblick gab ihr wie immer Kraft. Salim hatte ihr nicht nur ein Schmuckstück vermacht, nicht nur ein simples Erinnerungsstück, damit sie ihn nie vergaß. Neben allen anderen Bedeutungen, die dieser Ring haben mochte, war er für Robin vor allem ein Quell unerschöpflicher Kraft und Zuversicht. Naida hatte Recht gehabt, als sie ihr vorgehalten hatte, sich ihr Opfer nicht gut genug überlegt zu haben. Solange sie diesen Ring hatte, war ein Teil von Salim immer bei ihr, und damit auch ein Teil seiner Kraft.
Noch lange nach Sonnenuntergang stand Robin am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Irgendwann rief der Muezzin vom Minarett der nahen Moschee das Abendgebet, und im Haus wurde es still. Robin sparte sich die Mühe, zur Tür zu gehen. Die beiden Sklavinnen, die ihr das Abendmahl gebracht hatten, hatten sie hinter sich wieder verriegelt, und draußen stand nun auch wieder ein Wächter.
Die Rufe des Muezzins verstummten, und ringsum erwachte nicht nur die Stadt, sondern auch das Haus wieder zum Leben. Aber die Geräusche waren gedämpft. Hinter den meisten Fenstern, die sie von ihrem Zimmer aus sehen konnte, brannte kein Licht mehr. Der Tag war für alle hier anstrengend gewesen, zweifellos würde man sich an diesem Abend früher als gewöhnlich zur Ruhe legen. Jeder im Haus wusste, dass die Versteigerung noch nicht zu Ende war und der kommende Tag ebenso anstrengend werden würde wie der zurückliegende.
Aus der Nacht drang der Schrei eines Raubvogels an ihr Ohr, ein dünner, schriller Ruf voller Wildheit und Zorn, und Robin fragte sich, ob es derselbe Falke war, den Harun ihr gezeigt hatte, und ob dieser Schrei vielleicht bedeutete, dass er in eben diesem Moment die beiden freigelassenen Vögel entdeckt hatte. Ihr Blick glitt über den zerbrochenen Käfig, der noch immer auf dem Boden lag, und sie gestand sich ein, dass sie die beiden kleinen Tiere vermutlich dem sicheren Tod ausgeliefert hatte. Aber vielleicht, dachte sie, waren sie ja glücklich gestorben. Vielleicht hatten sie zum ersten Mal seit Monaten ihre Flügel ausbreiten können, und wenn es so war, dann war dieses Opfer den Preis wert gewesen, denn ein einziger Tag der Freiheit zählte hundertmal mehr als ein ganzes Leben in Ketten.
Der Gedanke war naiv, romantisch und dumm, aber er gab ihr Kraft. Robin atmete noch einmal tief ein, ging zur Tür und schlug zweimal mit der flachen Hand dagegen. Einen Moment lang geschah nichts, dann aber hörte sie ein unwilliges Rumoren, und Schritte, die sich der Tür näherten. Das Geräusch des Riegels, der zurückgeschoben wurde, blieb jedoch aus.
Robin schlug noch einmal, heftiger jetzt, mit der flachen Hand gegen die Tür und wich einen halben Schritt zurück. »Öffne!«, rief sie mit lauter, befehlender Stimme. »Ich habe eine Nachricht für Omar! Es ist wichtig!«
Ihr Herz klopfte. Ihre Hände und Knie begannen leicht zu zittern, aber zugleich machte sich eine sonderbare, grimmige Entschlossenheit in ihr breit. Sie hatte noch keinen wirklichen Plan, ja, sie wusste nicht einmal genau, was sie tun würde, wenn die Tür jetzt aufging. Aber der Gedanke an die Vögel hatte ihr für diesen Augenblick Kraft gegeben. Wenn sie heute nicht floh, würde sie es nie mehr tun.