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Wieder vergingen endlose Momente, und Robin fragte sich, ob sie nicht bereits den ersten und womöglich auch schon entscheidenden Fehler gemacht hatte. Was, wenn der Mann nicht die Tür öffnete, sondern gleich zu Omar ging, um ihn zu rufen? Dann aber hörte sie das Scharren von Metall auf Holz, und die Tür wurde mit einer unwilligen Bewegung aufgestoßen. Das düsterrote Glühen einer Fackel drang ins Zimmer und schien die Dunkelheit mehr zu unterstreichen, als zu vertreiben.

»Was willst du?«, fragte der Wächter grob.

Robin antwortete nicht. Stattdessen machte sie einen Schritt rückwärts, um ihn ganz zu sich hereinzulocken, und der Mann tat ihr auch den Gefallen. Vor dem dunkelroten Hintergrund hob er sich wie ein schwarzer Scherenschnitt ab, aber Robin konnte zumindest erkennen, dass seine Hände, abgesehen von der Fackel, leer waren. Anscheinend hatte er Schild und Speer draußen gegen die Wand gelehnt. Er ging ja nur zu einer Sklavin, einem halben Kind dazu, das für ihn keine Gefahr darstellte.

Robin wartete, bis er einen weiteren Schritt auf sie zutrat. Und dann geschah alles erschreckend schnell. Sie hatte noch immer keinen Plan, keine Idee, wie sie diesen Mann überwältigen sollte, der zwei Köpfe größer als sie und mindestens fünfmal so stark war, aber sie brauchte auch nicht zu denken. Sie handelte genauso, wie Salim es ihr unzählige Male gezeigt hatte. Als der Krieger den letzten Schritt in ihre Richtung tat, riss sie das Knie hoch und rammte es ihm mit aller Gewalt in die empfindliche Stelle zwischen seinen Beinen. Mit einem gurgelnden Laut krümmte er sich. Sie krallte beide Hände in seinen Turban, zerrte seinen Kopf nach oben und riss das Knie abermals und mit noch größerer Kraft hoch. Robin konnte hören, wie der Kiefer des Wächters brach, als seine Zähne krachend aufeinander schlugen.

Blitzschnell sprang sie zurück, spreizte die Beine ein wenig, um festen Stand zu haben, und hob abwehrbereit die Hände. Aber ihre Angriffshaltung war nun nicht mehr nötig. Der Krieger sank mit einem erstickten Laut auf die Knie. Ein Schwall Blut rann ihm über die Lippen. Und dann sah er zu ihr auf...

Vielleicht war das das Schrecklichste überhaupt. Sie hatte noch nie einen Menschen getötet - nicht auf diese Weise! - und sie hätte sich in ihren schlimmsten Träumen nicht vorstellen können, wie entsetzlich es war, wie grausam. Der Mann hockte auf den Knien da, beide Hände auf den Mund gepresst, aus dem unaufhörlich Blut quoll, und die Augen, die von einer Mischung aus Todesangst und purer Fassungslosigkeit erfüllt waren, weit aufgerissen. Robin konnte sehen, wie das Leben in seinen Augen erlosch. Es dauerte nicht sehr lange, aber ihr erschien es wie eine Ewigkeit. Ganz egal, was sie zuvor miterlebt hatte und später noch erleben sollte, sie würde den Ausdruck im Blick des sterbenden Mannes gewiss nie mehr vergessen.

Wie lange sie so dastand und den reglosen Körper auf dem Boden vor sich anstarrte, vermochte sie hinterher nicht zu sagen. Seine Fackel war in der Blutlache auf dem Boden verloschen. Er war endlich nach vorne gestürzt und barmherzige Dunkelheit verbarg den Anblick seines in Todesqual verzerrten Gesichtes.

Endlich erwachte Robin aus ihrer Erstarrung, trat ans Bett und legte den Schleier und anschließend den schwarzen Umhang an. Sie ging so weit um den Toten herum, wie es in der Enge des Zimmers überhaupt möglich war, und sie blickte überall hin, nur nicht in seine Richtung. Bevor sie den Raum verließ, nahm sie einen der Wasserkrüge, die Harun wie üblich am Morgen mitgebracht hatte.

Im Gang draußen war es so still, wie sie es erhofft hatte. Aus dem Haus drangen gedämpfte Geräusche zu ihr: Stimmen, ein Klirren und Scheppern aus der Küche, etwas, das sich wie Gelächter anhörte. All diese Laute waren weit entfernt und bedeuteten keine Gefahr. Wie ein Schatten glitt Robin zur Treppe, hielt mit angehaltenem Atem noch einmal inne, um zu lauschen, und schlich dann die Stufen zum Erdgeschoss hinab. Auf dem letzten Absatz verharrte sie kurz, schloss die Augen und lauschte erneut und mit höchster Konzentration. Aber außer den gedämpften Stimmen und dem leisen Plätschern des Brunnens hinten auf dem kleinen Hof war auch hier nichts Verdächtiges zu hören. Robin bedauerte es plötzlich, den toten Wächter nicht durchsucht und seinen Säbel oder wenigstens einen Dolch mitgenommen zu haben, aber nun war es zu spät. Möglicherweise wäre ihr sogar die Zeit geblieben, noch einmal zurückzugehen und ihren Fehler zu korrigieren, aber sie wollte nicht zurück. Der Weg, den sie mit dem Kniestoß gegen das Kinn des Kriegers begonnen hatte, führte nur in eine Richtung.

Ebenso lautlos wie bisher schlich sie zu der Tür, hinter der die Kellertreppe lag. Als sie sie öffnete, gaben die Angeln ein quietschendes Geräusch von sich, das Robin so laut erschien, als müsste das ganze Haus davon aufwachen, dennoch blieb weiter alles ruhig. Den Wasserkrug unter dem linken Arm, schlich sie auf Zehenspitzen die Kellertreppe hinab. An der Wand brannte eine einzelne Fackel, die den Keller in ein Labyrinth aus tanzenden Schatten und unsteter Bewegung verwandelte. Robin hörte die gleichmäßigen Atemzüge der Sklaven, die dort unten in ihren Zellen lagen und schliefen, aber auch ein gedämpftes Wehklagen und Stöhnen. Der Gestank, der ihr entgegenschlug, raubte ihr den Atem, obwohl er längst nicht mehr mit dem zu vergleichen war, der hier unten geherrscht hatte, als sie Nemeth das erste Mal besucht hatte.

Robin blieb stehen, setzte sich den gefüllten Wasserkrug vorsichtig mit beiden Händen auf den Kopf und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie diesmal ihre Last nicht fallen lassen möge. Auf den letzten Stufen bemühte sie sich nicht mehr, leise zu sein, sondern trat bewusst laut auf und rief schließlich nach den Wachen. Es dauerte einen Moment, dann sah sie, wie sich eine verschlafene Gestalt in einer Wandnische erhob und einen unsicher tapsenden Schritt in ihre Richtung machte. Als das Gesicht des Mannes ins Licht der Fackel geriet, fuhr Robin leicht zusammen. Es war der grobschlächtige Kerl, der am Nachmittag die Sklaven auf die Holzbühne hinaufgezerrt hatte. Warum hatte nicht dieser Mann oben vor ihrer Tür Wache gehalten?

»Was willst du?«, murmelte er verschlafen. Er versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, und fuhr sich mit dem Handrücken der Linken über die Augen. Die andere Hand lag auf dem Griff der Peitsche, die aus seinem Gürtel ragte.

»Ich bringe dir Wein«, sagte Robin. »Omar schickt mich. Er sagt, du hättest heute gute Arbeit geleistet und dir eine besondere Belohnung verdient.«

Noch bevor sie die Worte ganz ausgesprochen hatte, merkte Robin, dass sie im Begriff war, einen großen Fehler zu machen. Der Wächter blieb nicht nur misstrauisch, sein Misstrauen verstärkte sich sichtlich. Er blinzelte ein paar Mal und wirkte von einem Moment zum anderen hellwach. Wie konnte sie nur diese törichten Worte aussprechen? Wie dumm von ihr: Moslems war der Verzehr von Alkohol strengstens verboten, was sie nicht daran hinderte, ihm trotzdem hin und wieder zuzusprechen. Doch Omar war gewiss kein Herr, der für seine Großzügigkeit bekannt war, und ein Geschenk von ihm musste den Verdacht eines jeden Wachpostens wecken. Robin verfluchte sich in Gedanken für ihre Unachtsamkeit. Sie erinnerte sich an Haruns Worte, dass jeder eine besondere Gabe besaß. Ihre besondere Gabe war es, sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Aber noch war nicht alles verloren. Während der Krieger näher kam, schloss sich seine linke Hand fester um den Griff der Peitsche. Wie sein Kamerad oben auch hielt er es nicht für nötig, Schild und Speer aufzunehmen. Sicherlich sah er in ihr keine Gefahr.

»Setz deinen Krug ab!«, verlangte er.

Robin nickte gehorsam und nahm den Krug mit einer Eleganz und Selbstverständlichkeit vom Kopf, die sie fast selbst überraschte. Sie hatte vorgehabt, dem Krieger schlichtweg den Tonkrug über den Schädel zu schlagen, was ihn mit einiger Wahrscheinlichkeit betäuben, wenn nicht sogar töten würde. Einen kurzen Moment lang überlegte sie, einen ähnlichen Angriff wie im Flur vor ihrem Zimmer zu versuchen, entschied sich aber dann dagegen. Sie hatte nicht mehr den Vorteil vollkommener Überraschung auf ihrer Seite. Und nachdem, was gerade geschehen war, konnte sie keinen zweiten Angriff auf die gleiche unerbittliche Art führen. Nicht jetzt. Vielleicht nie wieder.