»Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich hier heraushole«, sagte Robin. »Siehst du, ich halte mein Versprechen. Aber jetzt komm. Wir haben keine Zeit!«
Sie sah flüchtig zur Treppe hin. Die Gefangenen hatten nicht viel Lärm gemacht, als sie den Wächter überwältigten, aber oben im Haus war es so still, dass der Tumult durchaus hätte gehört werden können. An der Treppe blieb alles ruhig. Wie es schien, war das Glück ausnahmsweise einmal auf ihrer Seite. Dennoch war keine Zeit zu verlieren.
»Komm schon!«, sagte Robin ungeduldig. »Wir müssen weg! Sie werden sicher bald merken, dass ich nicht mehr in meinem Zimmer bin!« Als Nemeth immer noch keine Anstalten machte, sich zu bewegen, griff sie ungeduldig nach ihrer Schulter und rüttelte daran, aber das Mädchen klammerte sich umso fester an die Brust seiner Mutter.
»Also gut«, seufzte Robin. »Dann kommst du eben auch mit.«
Saila hatte die Worte zweifellos verstanden - und blickte Robin noch immer mit einem Ausdruck völliger Fassungslosigkeit an auch sie rührte sich nicht.
»Worauf wartet ihr?«, fragte Robin fast verzweifelt. »Wir haben nicht viel Zeit!«
»Fliehen?«, murmelte Saila. »Aber... aber wohin denn?«
»Du kannst auch gerne bleiben und versuchen, Omar das da zu erklären«, knurrte Robin mit einer zornigen Geste auf den toten Krieger. »Aber dann gib mir deine Tochter mit, damit er seinen Zorn nicht auch noch an ihr auslässt!«
»Ich... ich gehe nicht ohne die anderen«, murmelte Saila.
Robin riss ungläubig die Augen auf. »Was?«
»Die anderen«, antwortete Saila. »Das sind... meine Brüder und Schwestern, meine Familie. Ich gehe nicht ohne sie.«
Robin war nicht ganz sicher, ob sie laut auflachen oder Saila einfach ins Gesicht schlagen sollte. Das konnte nur ein Scherz sein. »Aber wir können doch nicht...«
»Wir gehen alle, oder wir bleiben alle«, beharrte Saila.
Robin starrte sie an. Die Araberin und ihre Tochter waren allein in der kleinen Zelle. Robin zweifelte nicht daran, dass sie Saila nötigenfalls mit Gewalt zwingen konnte, ihr zu folgen. Aber hatte sie das Recht dazu? Sie musste plötzlich an die beiden Vögel denken, die ihren Käfig nicht hatten verlassen wollen, obwohl die Tür weit offen stand, und an den Schrei des Falken. Vielleicht hatte sie an diesem Tag schon zu viel auf ihr Gewissen geladen, um einen weiteren Vogel dazu zu zwingen, seine Flügel zu entfalten.
»Also gut«, sagte sie. »Das macht alles viel schwerer, aber vielleicht soll es so sein.« Sie stand auf, verließ die Zelle und öffnete nacheinander die Türen der übrigen Gitterverschläge. Etliche Gefangene stürmten an ihr vorbei und ein paar Schritte weit auf den Gang hinaus, die meisten aber blieben einfach stehen oder sitzen, wo sie waren, und sahen sie verwirrt und ungläubig an. Möglicherweise waren Menschen, die bereits mit dem Leben abgeschlossen hatten, nicht so ohne weiteres in der Lage zu begreifen, dass sich ihnen eine zweite Chance bot.
Bei der letzten Zelle angekommen, zögerte Robin. Es war der größte Verschlag, in dem sich mehr als ein Dutzend Gefangener aufhielt, und ausnahmslos Männer. Der Krieger hatte einfach Pech gehabt, ausgerechnet gegen dieses Gitter gestolpert zu sein. Um die Tür zu öffnen, hätte sie den Leichnam anfassen und zur Seite schieben müssen, und dazu fehlte ihr plötzlich die Kraft. Sie schob den Schlüssel ins Schloss und wich zwei Schritte zurück, sie überließ es den Gefangenen, ihn herumzudrehen und sich selbst zu befreien.
Der Letzte, der den Verschlag verließ, war Mustafa, Sailas Mann. Verstört und immer noch halb in Panik, wie Robin war, erkannte sie ihn im ersten Moment nicht einmal; der bärtige Fischer jedoch erkannte sie dafür umso genauer. »Du!«, zischte er.
Robin sah nur flüchtig in sein Gesicht und schüttelte dann müde den Kopf. »Bitte nicht jetzt, Mustafa«, murmelte sie. »Was passiert ist, tut mir Leid, aber...«
Der Araber machte einen Schritt auf sie zu und hob die Hand, als wollte er sie schlagen, doch dann verließ ihn offensichtlich der Mut, die Bewegung zu Ende zu führen. »Hat Sheitan dich geschickt, um uns alle ins Verderben zu führen?«, keuchte er.
Robin blinzelte verständnislos. Sie begriff nicht, wovon der Fischer sprach. »Ihr dürft ihr nicht glauben!«, rief er weiter. »Sie ist eine Abgesandte des Teufels, ein Dschinn, ein böser Geist aus der Wüste, der hier hergeschickt wurde, um uns in Versuchung zu führen!«
»Bist du verrückt geworden?«, fragte Robin leise. »Geht nicht mit ihr!«, rief Mustafa. Um seine Worte zu unterstreichen, wich er tatsächlich einen Schritt weit in die Zelle zurück, aus der er gerade befreit worden war. »Seid ihr denn blind? Habt ihr nicht mit eigenen Augen gesehen, was sie getan hat?«
»Sie hat uns befreit, Mustafa«, sagte Saila. »Und dabei ihr eigenes Leben riskiert.«
»Oh, du gutgläubiges dummes Weib!«, antwortete Mustafa erregt. »Keine normale Frau könnte einen bewaffneten Krieger mit bloßen Händen zur Strecke bringen. Bleibt hier! Sie führt euch nicht in die Freiheit, sondern in den Tod! Jeder, der mit ihr geht, wird sich für immer vor dem Angesicht Allahs versündigen!«
Obwohl seine Worte Robin beinahe lächerlich vorkamen, musste sie feststellen, dass sie ihre Wirkung bei den Gefangenen nicht verfehlten. Sailas Gesicht verdüsterte sich, aber die meisten anderen starrten sie erschrocken oder furchtsam an. Robin war schier verzweifelt. Konnte das Schicksal wirklich so grausam sein, sie so weit kommen zu lassen, nur damit sie im buchstäblich allerletzten Moment doch noch scheiterte?
»Bitte, seid doch vernünftig«, sagte sie. »Habt ihr wirklich schon vergessen, was heute Nachmittag passiert ist? Wollt ihr wirklich zusehen, wie eure Söhne und Töchter, eure Frauen und Männer von eurer Seite gerissen werden?« Sie lachte bitter. »Glaubt ihr denn, dass eine solche Ungerechtigkeit Allahs Wille sein könnte?«
»Worte!« Mustafa stieß das Wort wie etwas Obszönes aus. »Du bist wirklich ein Dschinn! Jeder weiß, dass sie mit Engelszungen zu reden verstehen!«
»Und jeder weiß, dass du ein Narr und Dummkopf bist, Mustafa!« Saila schob sich mit einer energischen Bewegung an Robins Seite und maß ihren Mann mit einem langen, eisigen Blick, der ihn verstummen ließ.
»Dieses Christenmädchen ist kein Dschinn«, fuhr Saila in sanfterem Ton fort. »Ihr alle habt doch gesehen, was geschehen ist. Sie ist nichts als eine Ungläubige, die ihr selbst halb ertrunken aus dem Meer gezogen habt. Robin ist so wenig ein böser Geist wie Omar Khalid, der all dieses Unglück über unser Dorf gebracht hat. Wenn es jemanden unter uns gibt, den die Schuld daran trifft, dann wohl eher den, der Omars Aufmerksamkeit, und damit seine Gier, erst auf uns gelenkt hat!« Sie drehte sich zu Robin um. »Bring uns hier raus!«
»Ihr Narren!«, sagte Mustafa. »Sie wird uns alle in den sicheren Tod führen!«
»Vielleicht«, sagte Saila. »Aber wenn nur die geringste Aussicht besteht, das Leben meiner Tochter damit zu retten, dann bin ich bereit, die Flucht zu wagen. Führe uns, Robin!«
Damit war das Eis gebrochen. Zögernd gaben die Gefangenen einer nach dem anderen ihren Widerstand auf und gesellten sich zu Robin und Saila. Nur Mustafa und zwei weitere Männer wichen in ihre Zellen zurück. Vielleicht bauten sie ja darauf, dass Omar sie verschonen würde, wenn sie blieben. Wenn es so war, dachte Robin, würden sie vermutlich eine grausame Überraschung erleben.
Sie verscheuchte den Gedanken. Sie hatte im Moment andere Sorgen. Es hatte bereits einer ganzen Anzahl kleiner Wunder bedurft, um sie so weit kommen zu lassen. Damit sie aus dem Haus und möglicherweise sogar aus der Stadt herauskamen, brauchte sie noch eine ganze Menge mehr davon.
»Folgt mir!«, befahl sie. »Aber seid um Gottes willen leise! Ganz egal, was passiert.« Irgendwie brachte sie das Kunststück fertig, Nemeth aufmunternd zuzulächeln, dann wandte sie sich endgültig um und schlich als Erste die Treppe hinauf.