11. KAPITEL
Es kam, wie es kommen musste. In die Geräusche der verängstigen Sklavenschar, die den Ausbruch wagen wollte, mischten sich andere, eindeutig von oben kommende Laute. Robin bedeutete ihren verängstigten Begleitern mit einer energischen Geste zu warten und stieg als Erste die Treppe zum Erdgeschoss hoch. So leise und vorsichtig wie möglich schlich sie in die Halle. In ihrer überreizten Fantasie hatte sie sich bereits ausgemalt, dass sie hier auf durch den Lärm im Keller aufgeschreckte Wächter stoßen würde, aber zu ihrer Erleichterung war die Halle vollkommen menschenleer. Allerdings vernahm sie nun deutlich gedämpfte Gespräche hinter der nach außen führenden Tür, überlagert vom Plätschern des Springbrunnens im hinteren Hof.
Unendlich behutsam schob sie die Tür weiter auf, wobei die Angeln aus uraltem, halb verrostetem Eisen ein erbärmliches Quietschen ausstießen, das ebenso ungehört verhallte wie die anderen Geräusche bisher. Dann trat sie mit einem vorsichtigen Schritt durch den Spalt und huschte nach rechts, auf die Tür zu, hinter der sich der kurze Gang nach draußen verbarg. Robin betete stumm darum, dass alle Gefangenen sich so leise zu bewegen imstande waren wie sie - und dass kein Kind schrie. Am meisten Angst hatte sie davor, dass Mustafa unten im Keller auf die Idee kam, sich an ihr zu rächen, indem er durch lautes Geschrei Omar Khalid auf ihre Flucht aufmerksam machte. Sie hätte ihn niederschlagen oder wenigstens in seiner Zelle wieder einsperren sollen. Doch jetzt war es zu spät, um noch einmal in den Keller zurückzukehren. Sie musste die Sklaven so schnell wie möglich aus dem Haus bekommen. Sich auf ihr Glück zu verlassen und darauf zu bauen, dass niemand ihren Fluchtversuch bemerkte, wäre töricht.
Unbehelligt erreichte sie die Tür, schlüpfte hindurch und tastete sich durch den stockdunklen Gang bis zu seinem jenseitigen Ende. Ihre Finger berührten das raue Holz der massiven Tür, die ihn zum Hof hin abschloss. Durch die schmalen Ritzen zwischen den Brettern drang das rote Flackerlicht mehrerer Fackeln. Wie viele Wächter standen dort draußen auf dem Hof? Robin hatte den ganzen Tag über mit fast nichts anderem als damit zugebracht, auf den Hof hinabzusehen, aber jetzt konnte sie sich nicht erinnern. Waren es zwei oder drei?
Sie schloss die Augen, atmete so tief ein wie möglich und zwang ihre Gedanken zur Ruhe. Tatsächlich ließ die Panik sogleich ein Stück weit nach - nicht so weit, wie sie es gerne gehabt hätte -, und sie war sich schlagartig sicher, dass es zwei gewesen waren.
Das düstere Zwielicht im Korridor wich absoluter Dunkelheit, als der letzte Flüchtling den Gang erreichte und die Tür hinter sich zuzog. Die Tür knallte so laut zu, dass das Geräusch wie ein Gongschlag durch das Haus hallte. Robin zuckte erschrocken zusammen, tastete aber im nächsten Moment im Dunkeln nach dem Bronzegriff der Pforte zum Hof und zog mit der anderen Hand den Schleier vors Gesicht.
Sie hatte auch jetzt noch keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Das Einzige, was sie jetzt vorantrieb, war ihr unbändiger Freiheitstrieb und Salims wiederholt geäußerte Bemerkung, dass kein noch so gut aufgestellter Schlachtplan der ersten Begegnung mit dem Gegner standhält.
»Ich brauche zwei oder drei Männer«, flüsterte sie Saila zu, die unmittelbar hinter ihr war. »Die Kräftigsten. Aber seid leise!«
Die Araberin gab ihre Anweisung im Flüsterton weiter und nur einen Augenblick später hörte Robin, wie sich mehrere Gestalten durch den hoffnungslos überfüllten Gang drängten, um hinter ihr Aufstellung zu nehmen.
»Ich versuche, sie hereinzulocken«, sagte sie. »Ihr müsst sie überwältigen.« Nach kurzem Zögern und in verändertem Tonfall fügte sie hinzu: »Aber bitte keine Toten mehr.«
Sie glaubte nicht daran, dass die Männer ihr diesen Wunsch erfüllen würden, aber sie konnte nicht anders, als diese Bitte zu äußern. Noch immer hatte sie den Blick des sterbenden Mannes vor Augen, den sie beim Ausbruch aus ihrem Zimmer so gnadenlos überrumpelt hatte, und wahrscheinlich würde sie seinen fürchterlichen Todeskampf ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. Dabei war das vielleicht nur eine Anzahlung auf den Preis gewesen, den sie für ihren verzweifelten Fluchtversuch bezahlen musste. Sie war nicht nur aus ihrem Gefängnis ausgebrochen, sondern hatte mit ihrer Bluttat eine Lawine aus Gewalt und Tod losgetreten, die möglicherweise noch viele Unschuldige unter sich begrub.
Sie schüttelte diese düsteren Gedanken ab, drückte die Klinke vorsichtig herunter und öffnete dann schwungvoll die Tür, um im selben Moment auf den Hof hinauszutreten. Zuerst sah sie im unsteten Licht der Fackeln nur tanzende Schatten. Dann nahm sie rechts von ihr eine Bewegung wahr, und als sie in die entsprechende Richtung blickte, erkannte sie die beiden Wächter, die ihre Posten verlassen und es sich auf dem Podest des Sklavenverkäufers gemütlich gemacht hatten. Das Geräusch der Tür ließ sie ihr Gespräch unterbrechen und neugierig, aber auch ein bisschen alarmiert, die Köpfe in ihre Richtung drehen.
»Omar Khalid schickt mich«, sagte sie. »Ich soll euch Wasser und Essen bringen.«
Einer der beiden Männer sah sie mit einem Ausdruck an, der vermutlich nichts anderes als gelangweilt war, in den Robin in ihrer Angst aber Misstrauen hineindeutete. Der andere richtete sich dagegen ein wenig auf und lachte leise. »Omars Geschäfte müssen gut gelaufen sein, wenn er sich so ungewohnt großzügig zeigt«, sagte er. »Bring es nur her.«
Robin deutete ein Nicken an, trat wieder in den Schatten des Hausflures zurück und rief: »Das Tablett ist schwer. Könnt Ihr mir helfen?«
Mit leeren Händen trat sie wieder auf den Hof hinaus und stellte mit Erschrecken fest, dass sich nur einer der beiden Männer erhob, um ihrer Bitte nachzukommen, während der andere nun doch ein wenig misstrauisch wirkte; zumindest aber überrascht. Sie war plötzlich sehr froh, den Schleier wieder angelegt zu haben, und das nicht nur, weil ihre helle Haut und ihre abendländischen Züge sie sonst sofort verraten hätten. Damit der Krieger nicht an ihr vorbei in den Gang hineinsehen konnte, trat sie rasch vor ihm ins Haus zurück und presste sich dann mit einer hastigen Bewegung an die Wand. Der Wächter blieb mitten im Schritt stehen und sog überrascht die Luft ein, aber das war auch alles, wozu er kam. Drei, vier starke Hände griffen aus der Dunkelheit heraus nach ihm, rissen ihn in den Gang hinein und zerrten ihn zu Boden. Robin hörte ein Ächzen, dann das dumpfe Klatschen von drei oder vier Schlägen.
»Was ist da los?«, drang die Stimme des zweiten Kriegers vom Hof herein.
Robins Herz machte einen Sprung. »Lasst das!«, rief sie. »Nein, habe ich gesagt! Ich will das nicht!«
Ein dumpfes Poltern, dann das Geräusch schneller Schritte, die die kurze Treppe herabkamen. »Muhamed, lass das sein!«, rief der Krieger. »Du weißt, dass Omar es nicht schätzt, wenn...«
Einer der Männer, die den Wächter zu Boden gezerrt hatten, sprang an Robin vorbei durch die Tür. Metall blitzte auf, und sie hörte den Ansatz eines Schreies, der aber nicht lange genug währte, um jemanden alarmieren zu können. Dann folgte der schreckliche, nur zu vertraute Laut, mit dem Stahl durch Fleisch schnitt. Robin schloss entsetzt die Augen. War es der dritte oder schon der vierte Tote? Und wie viele Leben würden noch auf ihrem Gewissen lasten, bis dieser Albtraum endlich vorüber war? Sie vermied es ganz bewusst, in die Richtung zu blicken, aus der das Keuchen und das Geräusch eines zu Boden stürzenden Körpers zu ihr gedrungen waren, als sie neben Saila und ihrer Tochter auf den Hof hinaustrat.
Zwei der Fischer waren mittlerweile bereits am Tor und machten sich an der schweren Kette zu schaffen, die auf Omars Geheiß hin vorgelegt worden war. Robin fuhr erschrocken zusammen, als sie das Klirren der eisernen Glieder hörte, einen Laut, der in der Stille der Nacht weithin zu hören sein musste. »Hört auf!«, befahl sie im scharfen Flüsterton. Sie beschleunigte ihre Schritte, stieß einen der Sklaven, der ihre Worte missachtete und ebenso sinnlos wie lautstark weiter an der Kette herumzerrte, grob beiseite und hob den Schlüsselbund des toten Wächters, den sie mitgenommen hatte. »Vielleicht passt einer hiervon.«