Während sich der Hof hinter ihr mit Menschen füllte, die sich trotz aller Mühe nicht annähernd so leise verhielten, wie Robin gehofft hatte, probierte sie hastig einen Schlüssel nach dem anderen aus. Keiner passte. Sie schaffte es gerade, den Bart eines einzigen Schlüssels in das schwere Vorhängeschloss zu schieben, das die Kette zusammenhielt, aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn nicht bewegen.
»Dann steigen wir über die Mauer«, murmelte Saila.
Robin warf ihr einen mutlosen Blick zu, bevor sie mit wenig Zuversicht die Wand aus gebrannten Ziegeln musterte, die den Hof an drei Seiten umschloss. Sie war gut drei Meter hoch und so glatt verputzt, dass nicht einmal eine Fliege daran Halt gefunden hätte. Wer immer sie erbaut hatte, musste mit Fluchtversuchen gerechnet haben. Als sie ihr Mut endgültig verlassen wollte, fiel ihr Blick auf das Podest, und plötzlich erinnerte sie sich an etwas, das sie am Morgen bemerkt hatte - an die gut vier Meter langen, gehobelten Balken, die hinter ihm an der Wand lehnten.
»Dort!« Sie deutete aufgeregt auf das Podest. »Die Balken! Schnell!«
Ohne zu zögern lief sie los und griff nach einem Balken. Um ein Haar wäre er ihr sofort wieder aus den Händen gerutscht, denn er war viel schwerer, als sie geglaubt hatte; doch einer der Männer sprang im letzten Moment hinzu und fing ihn auf, bevor er polternd zu Boden fallen und der Lärm sie alle verraten konnte. Sie brauchten kein Wort zu wechseln, um zu wissen, was zu tun war.
In aller Eile schleppten sie den Balken zur Mauer und lehnten ihn so dagegen, dass er als Kletterhilfe zu gebrachen war. Die Frage war nur, wer außer ihr sowie ein paar halbwegs bei Kräften gebliebenen Sklaven es schaffen würde... Sie kam nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Denn jetzt geschah etwas, das sie die ganze Zeit über befürchtet hatte.
Eines der Kinder begann zu weinen. Seine Mutter versuchte sofort, es zu beruhigen, aber sie erreichte damit genau das Gegenteiclass="underline" Das Jammern und Wehklagen steigerte sich noch.
Robin war sofort klar, dass es jetzt um alles oder nichts ging. Ohne zu zögern kletterte sie an dem schräg gestellten Balken nach oben. Die Angst schien ihr Flügel zu verleihen, denn schon nach wenigen Augenblicken erreichte sie die Mauerkrone - und zuckte erneut zusammen.
Die Mauer war mit in harten Lehm gedrückten Tonscherben gespickt. Doch sie war nicht gewillt, sich von diesem weiteren Hindernis aufhalten zu lassen. Mit zitternden Händen streifte sie ihren Mantel ab und legte ihn über die verwitterten und gottlob ohnehin nicht mehr allzu scharfen Scherben. Sie konnte nur hoffen, dass er die Kinder vor Hand- und Fußverletzungen bewahren würde.
Ein viel größeres Hindernis war die Mauer selber, denn ein Sprung auf die Straße aus dieser Höhe war alles anders als ungefährlich. Salim hatte sie gelehrt, wie man mit federnden Knien und einer Rolle über die Schulter einen solchen Sprung dämpfen konnte. Doch die meisten der entkräfteten und ausgezehrten Sklaven würden den Aufprall kaum unverletzt überstehen.
Die Gasse unter der Mauer lag in vollkommener Dunkelheit. Hinter den meisten Fenstern der angrenzenden Häuser brannte kein Licht. Es gab etliche Türen, doch von denen würde sich für sie gewiss keine öffnen, um ihnen Zuflucht zu gewähren. Sie brauchten eine Leiter, ein Seil, irgendetwas, woran sie hinabklettern konnten.
Oder etwas, wo sie hinaufsteigen konnten.
Robins Blick blieb für einen Moment am schwarzen Schattenriss des Aquädukts hängen, das sich jenseits des Tores auf der anderen Seite der Gasse erhob. Es war nur wenig höher als das Dach des Gebäudes, neben dem es vorbeiführte. Robin hatte lange genug am Fenster ihres Zimmers gestanden, um sich jedes noch so kleine Detail der Dachlandschaft ringsumher eingeprägt zu haben. Sie wusste, dass das Aquädukt nach wenigen Metern einen scharfen Knick machte und in einen anderen, ihr unbekannten Teil der Stadt führte.
Irgendwo im Haus erscholl ein Schrei.
Robin fuhr entsetzt zusammen und klammerte sich für einen winzigen Moment wider besseres Wissen an die Hoffnung, dass es weder Mustafa war, der Zeter und Mordio brüllte, um Omars Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, noch die Wachablösung, die über die Leiche ihres toten Kameraden gestolpert war. Gleich darauf jedoch ertönte ein weiteres aufgeregtes Brüllen, dann das Geräusch schwerer, hastiger Schritte.
»Die Tür!«, schrie Robin. »Verriegelt die Tür!«
Sie überzeugte sich nicht davon, dass die Männer ihrer Aufforderung nachkamen, sondern ließ sich, so schnell sie konnte, in den Hof hinabgleiten. »Schafft die Balken auf das Podest!«, schrie sie, während sie mit einer hastigen Bewegung herumfuhr und auf die andere Seite des Tores deutete. »Wir brauchen sie als Brücke zwischen Mauerkrone und Aquädukt!«
Die meisten Fischer starrten sie nur verständnislos an, aber der Mann, der ihr gerade geholfen hatte, packte sich ganz alleine einen der Balken und stolperte mit ihm vorwärts und zwei oder drei seiner Kameraden taten es ihm nach. Mit einem Blick zur Tür überzeugte sich Robin, dass sie mittlerweile geschlossen und der massive Riegel vorgelegt worden war. Dass Omar sein Haus in eine Festung verwandelt hatte, die vor allem dazu gedacht war, ihre Bewohner drinnen zu halten, verschaffte ihnen jetzt vielleicht eine letzte Gnadenfrist.
»Zum Aquädukt?«, fragte Saila. Sie blickte sie an, als zweifelte sie an ihrem Verstand. »Aber was...?«
»Auf der Straße sitzen wir in der Falle«, unterbrach sie Robin hastig. »Wenn sie die Tür nicht aufbrechen, dann kommen sie über den hinteren Hof hinaus. Schnell!«
Mittlerweile hatten die Sklaven gehorsam das knappe Dutzend Balken zur anderen Seite des Hofes geschafft und die längsten davon benutzt, um eine - erschreckend steile - Rampe zur Mauerkrone hinaufzubauen. Zwei oder drei von ihnen befanden sich schon auf der Mauer und winkten den anderen zu, ihnen die übrig gebliebenen Balken anzugeben. Gleichzeitig verbarrikadierten einige Männer die Tür zum Haus mit Bänken und losgerissenen Brettern aus dem Podest.
Und keinen Moment zu früh, wie es aussah. Die schwere Tür erzitterte unter einem harten Schlag und drinnen wurde ein zorniges Brüllen laut. Immer wütendere und heftigere Säbel- und Faustschläge trafen die Tür. Auf dem Hof begannen jetzt auch noch andere Kinder vor Angst zu weinen. Robin begriff, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, wenn ihre Flucht nicht schon im Hof enden sollte.
Robin eilte zu den Männern, die mittlerweile in aller Hast dabei waren, die Balken auf die Mauerkrone hinauf zuhieven. Der Versuch, eine Brücke zum Aquädukt hinüberzubauen, erwies sich als weitaus schwieriger, als sie erwartet hatte. Der erste Balken war zu kurz und stürzte mit gewaltigem Getöse die Gasse hinab. Auch den nächsten, ein gutes Stück längeren Balken hätten die Männer um ein Haar fallen lassen, doch nach endlosen Augenblicken des Hinundhermanövrierens schlug das Holz mit einem dumpfen Poltern auf den oberen Rand des Aquädukts.
Als einer der Männer sich unverzüglich daran machen wollte, mit ausgebreiteten Armen über den kaum eine Hand breiten Steg zu balancieren, packte Robin ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. Ihr selbst und wahrscheinlich noch einer Hand voll anderer Sklaven würde es gelingen, auf diese Weise über die Gasse zu entkommen. Für die meisten jedoch konnte ein solcher Versuch nur mit einem Sturz enden.
Sie warf einen raschen Blick über die Schulter. Das Holz hielt dem wütenden Angriff von der anderen Seite immer noch Stand, und die Bänke, die die Sklaven hinter der Tür verkeilt hatten, verliehen der Barrikade zusätzliche Festigkeit. Hinter fast allen Fenstern im Hause brannte nun Licht; die Tatsache, dass sie mit einer einzigen Ausnahme allesamt vergittert waren, würde nun vielleicht ihre Rettung bedeuten.