»Wir brauchen noch mehr Balken«, sagte Robin hastig. »Mindestens zwei, besser drei.«
Es kam ihr in diesem Moment gar nicht in den Sinn, dass die Männer irgendetwas anderes tun könnten, als ihr zu gehorchen. Sie war nicht mehr das Christenmädchen, nicht mehr die Sklavin, die Omar als Spielzeug für irgendeinen reichen Kaufmann oder Sultan auserkoren hatte, sondern wieder Bruder Robin, der Tempelritter, den man auch gelehrt hatte, ganz selbstverständlich wie ein Anführer aufzutreten, und dem niemand widersprach. Vielleicht übertrug sich etwas von dieser Selbstverständlichkeit auch auf ihre Stimme, denn zwei oder drei der Sklaven sahen sie zwar verwirrt und unentschlossen an, dann aber beeilten sie sich, ihrem Befehl nachzukommen.
Auch in den Zimmern im oberen Geschoss des Hauses wurde es nun hell. Robin sah, wie Nemeth neben ihr erschrocken zusammenfuhr. Sie hob den Blick und sah in eines jener Fenster, hinter denen sie einen Großteil der vergangenen Woche verbracht hatte, um sehnsüchtig auf die so nahe und doch unerreichbare Stadt zu blicken. Flackerndes rotes Fackellicht erfüllte nun den Raum, und Omar Khalid, nur in ein schmuckloses weißes Gewand gekleidet, stand hoch aufgerichtet dort oben am Fenster und starrte zu ihnen herab. Das rote Licht, noch verstärkt durch Robins Angst, verlieh seinem Gesicht etwas Dämonisches. In diesem Moment wurde sich Robin bewusst, dass sie von diesem Mann keine Gnade mehr zu erwarten hatte.
Eine zweite Gestalt erschien neben Omar, und jetzt war es Robin, deren Gesicht sich vor Zorn verdüsterte. Es war keiner von Omars Kriegern, sondern niemand anders als Mustafa, Sailas Mann. Gegen ihren Instinkt hatte sie sich bisher noch immer an die Hoffnung geklammert, dass nicht er es gewesen war, der sie verraten hatte, und sei es nur, um seine Frau und Tochter vor dem sicheren Tod zu bewahren. Aber er hatte die Gunst der Stunde erkannt und ohne Rücksicht auf seine eigene kleine Familie genutzt!
Noch während sie versuchte, mit dem kalten Entsetzen fertig zu werden, das diese Erkenntnis in ihr auslöste, erschien ein zweiter Mann neben Omar am Fenster. Es war der schwarz gekleidete Riese, der Robin den Großteil der zurückliegenden Woche bewacht hatte. Statt Schild und Säbel hielt er nun einen kurzen, geschwungenen Bogen in Händen, mit dem er ohne zu zögern auf einen der Männer oben auf der Mauerkrone anlegte.
Als er den Pfeil von der Sehne schnellen ließ, schlug Omar seine Hand nach unten. Statt sein wehrloses Opfer zu treffen, prallte der Pfeil harmlos gegen die Mauer und zerbrach. Der Krieger legte kein zweites Geschoss auf die Sehne, sondern zog sich hastig zurück, als Omar eine befehlende Geste machte. Robin glaubte jedoch nicht einen Augenblick daran, dass der Sklavenhändler aus Mitleid oder Rücksicht gehandelt hatte. Vielmehr war Omar wohl daran gelegen, seinen Besitz möglichst unbeschadet wieder zurückzubekommen. Doch ganz gleich aus welchen Gründen, er hatte ihnen eine weitere, vielleicht die entscheidende Atempause verschafft. Robin blickte zur Mauerkrone hinauf und sah, dass die Sklaven mit ihren Vorbereitungen fast fertig waren. Genau in diesem Moment legten sie den letzten, vierten Balken an. Das Geräusch, mit dem er auf dem Stein aufschlug, war noch nicht ganz verklungen, da machte sich der Erste bereits mit ausgebreiteten Armen und wie ein Seiltänzer auf einem Pfingstmarkt balancierend auf den Weg zur gegenüberliegenden Seite.
»Schnell jetzt!«, rief Robin. »Die Kinder und Alten zuerst!«
Die Männer oben auf der Mauer mussten ihre Worte gehört haben, aber diesmal dachte niemand daran, sich an ihren Befehl zu halten. Schon machte sich der Nächste auf den Weg, dann ein Dritter, Vierter, und wäre die Kletterpartie nach oben nicht so mühsam und zeitraubend gewesen, wäre auf der Mauerkrone zweifellos ein Handgemenge entstanden.
Hinter ihr erscholl ein dumpfer Aufprall, gefolgt von einem Schrei und den Geräuschen eines beginnenden Kampfes. Robin fuhr herum. Das Fenster, hinter dem Omar stand, lag gute vier Meter über dem Hof, aber dennoch hatte einer seiner Krieger offensichtlich den Sprung in die Tiefe gewagt. Doch das bezahlte er mit dem Leben. Auf dem Hof befanden sich noch immer mehr als zwei Dutzend Sklaven, und einige davon warfen sich auf den Krieger, noch bevor dieser auch nur dazu kam, sich aufzurappeln oder nach seiner Waffe zu greifen. Robin musste kein zweites Mal hinsehen, um zu begreifen, dass ihn das Schicksal seiner beiden Kameraden ereilen würde.
Auch Omar, der noch immer wie zur Salzsäule erstarrt oben am Fenster stand und hasserfüllt auf sie herabblickte, schien dies begriffen zu haben, denn als ein weiterer Krieger an seine Seite trat und den Sprung in die Tiefe wagen wollte, schüttelte er nur den Kopf.
Robin wusste, dass sie damit keineswegs gerettet waren. Omar würde wohl kaum enttäuscht mit den Schultern zucken und zur Tagesordnung übergehen, um den Verlust am nächsten Tag als unerwartete Ausgabe in seinen Büchern zu verzeichnen. Die Männer würden jetzt Seile holen und etliche von ihnen waren vermutlich schon auf dem Weg, um das Haus durch den hinteren Ausgang zu verlassen und ihnen den Weg abzuschneiden. Sie hetzte zum Tor zurück. Wie durch ein Wunder fand sie auf Anhieb den einzigen Schlüssel, der in das schwere Vorhängeschloss passte, und schob ihn in das Schlüsselloch. Er rührte sich jetzt so wenig wie zuvor, aber als Robin ihn mit beiden Händen ergriff, absichtlich verkantete und sich dann mit dem ganzen Körpergewicht dagegen warf, brach er mit einem hellen Klirren ab. Selbst wenn Omars Krieger es schaffen sollten, auf den Hof herauszukommen, würden sie ihnen durch dieses Tor so schnell nicht folgen.
Mittlerweile hatte gut die Hälfte der Sklaven das Aquädukt auf der anderen Seite der Straße erreicht und war bereits in der Nacht verschwunden. Robin hastete zu dem schräg gestellten Balken, wobei sie jetzt rücksichtslos einen Weg für sich, Saila und Nemeth bahnte, die ihr wie zwei ungleiche Schatten folgten. Sie kletterte mit einer Schnelligkeit zum Mauerkamm hinauf, wie getrieben von der schieren Todesangst. Dort drehte sie sich herum, um Nemeth die Hand entgegenzustrecken.
Das Mädchen zögerte. Offensichtlich hatte es Angst und auch seine Mutter wirkte für einen Moment wieder unentschlossen. Dann aber erscholl hinter ihnen ein vielstimmiger Schrei, und als Robin hochsah, erkannte sie, dass vier Seile gleichzeitig aus dem unvergitterten Fenster auf der anderen Seite geworfen wurden. Gegen so viele bewaffnete und zu allem entschlossene Krieger hatten die halb verhungerten Sklaven nicht die geringste Chance. Jetzt blieben ihnen buchstäblich nur noch Augenblicke.
Saila schien wohl zu dem selben Schluss gekommen zu sein, denn sie packte ihre Tochter mit einer energischen Geste und hob sie hoch, ohne auf ihre erschrockenen Schreie und ihr Strampeln zu achten. Robin ergriff Nemeths dünne Handgelenke und zog sie zu sich hoch.
Das Mädchen schien fast nichts mehr zu wiegen. Robin war klar, dass sie ihm wehtat, als sie es zu sich heraufzerrte, aber auch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Behutsam richtete sie sich auf der schmalen Mauerkrone auf, sah zum gegenüberliegenden Rand der Straßenschlucht, die ihr plötzlich zehnmal tiefer und hundertmal breiter vorkam als noch kurz zuvor, dann legte sie Nemeth beide Hände auf die Schultern und zwang sie mit sanfter Gewalt, vor sie zu treten.
»Geh einfach los«, sagte sie. »Und sieh nicht nach unten.«
Das Mädchen weinte vor Angst und zitterte wie Espenlaub, aber es setzte gehorsam einen Fuß vor den anderen und balancierte langsam, zugleich aber mit erstaunlicher Sicherheit über die nebeneinander gelegten Balken. Robin folgte ihr mit heftig hämmerndem Herzen. Sie wagte es nicht, nach unten zu sehen, so wenig wie sie es wagte, in den Hof hinabzublicken. Aber was sie hörte, reichte vollkommen aus, um sie davon zu überzeugen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren. Die Schreie hinter ihr gellten lauter und dann vernahm sie das Klirren von Waffen und wütende Kampfgeräusche. Omars Männer waren im Hof.