Robin hatte noch nicht die Hälfte der Straße überquert, als sie unter sich Schreie und hastige Schritte hörte. Sie widerstand dem Impuls hinabzusehen, bemerkte aber, wie die ersten Verfolger unter ihr versuchten, mit ihren Speeren nach den Flüchtlingen auf der improvisierten Brücke hoch über ihren Köpfen zu stechen.
»Mama!«, wimmerte Nemeth. »Wo ist meine Mama?«
»Deine Mutter ist hinter uns«, versicherte Robin. »Geh weiter. Wir haben es gleich geschafft.«
Der Kampflärm auf dem Hof schwoll an. Kurz bevor sie das Aquädukt erreichten, sah Robin noch einmal in die Gasse hinab. Unter ihnen befanden sich mindestens fünf oder sechs von Omars Kriegern, und weitere Verfolger rannten mit weit ausgreifenden Schritten aus allen Richtungen heran. Überall in der Gasse wurde hinter den Fenstern Licht angezündet, und hier und da hatte sich bereits eine Tür geöffnet oder blickte ein verschlafenes Gesicht aus einem Fenster. Jemand war hinter ihr, aber sie wagte es nicht, sich herumzudrehen, um sich davon zu überzeugen, dass es tatsächlich Saila war.
Dann, endlich, hatten sie es geschafft. Vor ihr machte Nemeth einen letzten, großen Schritt und versank dann bis an die Waden im langsam fließenden Wasser des Aquädukts. Nur einen Augenblick später trat Robin von der notdürftig errichteten Brücke herunter und drehte sich sofort herum. Sie atmete erleichtert auf, als sie feststellte, dass es tatsächlich Saila war, deren Atemzüge sie hinter sich gehört hatte.
Aber nur für einen winzigen Moment. Dann wandelte sich ihr erleichtertes Seufzen in einen erschrockenen Schrei, als sie die Gestalt entdeckte, die sich weniger als zwei Schritte hinter der Araberin vorsichtig auf dem Balken aufrichtete. Es war kein weiterer Flüchtling, sondern einer von Omars Männern. Die Krieger hatten es aufgegeben, die Brücke mit nutzlosen Sprüngen erreichen zu wollen, sondern schließlich das getan, was Robin sofort in den Sinn gekommen wäre: Zwei von ihnen hatten die Hände auf die Schultern des jeweils anderen gelegt, sodass ein Dritter ihren Körper als Kletterhilfe benutzen und daran emporsteigen konnte. Saila taumelte an Robin vorbei, machte noch einen ungeschickten Schritt und fiel dann der Länge nach ins Wasser des gut meterbreiten Aquädukts, aber sie kam augenblicklich wieder auf die Füße, als sie Robins erschrockenes Keuchen hörte. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck zwischen Entsetzen und so vollkommener Mutlosigkeit, wie Robin ihn selten zuvor im Antlitz eines Menschen gewahrt hatte.
Der Krieger kam mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Er war ein wahrer Riese von einem Mann; der Säbel steckte in seinem Gürtel und sein Gesicht zeigte Wut und grimmige Entschlossenheit. Robin wusste, dass sie ihm nicht gewachsen sein würde. Dennoch versuchte sie, auf dem von Algen und Schlamm glitschigen Boden des gemauerten Kanals einigermaßen festen Stand zu finden, um den Angreifer in Empfang zu nehmen. Doch sie kam nicht dazu.
Saila kam ihr zuvor. So schnell, dass Robin die Bewegung kaum sah, geschweige denn begriff, was sie vorhatte, sprang sie in die Höhe, fuhr herum und warf sich dem Krieger mit weit ausgebreiteten Armen entgegen.
Der Angriff kam für den Mann völlig überraschend. Im letzten Moment duckte er sich leicht und versuchte zurückzuweichen, aber seine Reaktion war viel zu langsam. Saila prallte mit aller Wucht gegen ihn, riss ihn von den Füßen und umschlang ihn noch im Sturz mit den Armen. Hilflos und voller Entsetzen musste Robin mit ansehen, wie die beiden aneinander geklammerten Körper drei Meter tiefer auf dem harten Stein der Straße aufschlugen. Der Krieger rollte sich stöhnend zur Seite und krümmte sich, um mit beiden Armen seinen Leib zu umklammern. Saila rührte sich nicht mehr.
»Mama«, wimmerte Nemeth. »Was ist mit ihr?«
Robin blieb nicht einmal Zeit, ihr zu antworten. Die schmale Balkenbrücke hinter ihr war für einen Moment leer geblieben; Saila schien tatsächlich die letzte Sklavin gewesen zu sein, der die Flucht aus dem Hof gelungen war. Die Männer unten auf der Straße zögerten, Robin auf die gleiche Weise zu verfolgen, nachdem ihr Kamerad so unrühmlich von einem Weib niedergeworfen worden war. In diesem Moment erschien auf der gegenüberliegenden Mauerkrone der Schatten eines weiteren Kriegers, der sich hochstemmte, flüchtig zu ihr herübersah - und dann mit einem entschlossenen Schritt auf die Balken hinaustrat, den Säbel bereits in der rechten Hand.
»Mama!«, wimmerte Nemeth. »Du hast mir versprochen, dass sie mitkommt! Wo ist sie?«
»Jetzt nicht!«, sagte Robin. »Deine Mutter wird zu uns kommen, das verspreche ich dir. Aber nicht jetzt.« Sie machte eine beruhigende Geste in Nemeths Richtung, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von der näher kommenden Gestalt zu wenden. Bisher war nur dieser eine Krieger auf die Balken hinausgetreten. Vielleicht trauten seine Kameraden der Festigkeit der notdürftigen Brücke nicht, vielleicht glaubten sie aber auch, dass ein einzelner Mann alleine wohl ein paar flüchtende, halb verhungerte Sklaven zusammentreiben konnte.
Robin wartete, bis der Mann genau über der Straßenmitte war, dann versetzte sie den auf dem Sims aufliegenden Balkenenden einen heftigen Tritt. Der Wächter blieb erschrocken stehen, ruderte einen Moment wie wild mit beiden Armen und fand seine Balance im letzten Augenblick wieder. Er ließ jetzt alle Rücksicht fahren und versuchte, mit einem weiten Satz zu Robin zu gelangen.
Ein zweiter Tritt Robins ließ die ungleich langen Balken so weit verrutschen, dass einer von ihnen von seinem Halt glitt und auf die Straße hinabstürzte. Die Männer unten ihr sprangen schnell zur Seite und auch der Krieger brach seinen Angriff ab. Mit geradezu grotesk aussehenden Ruderbewegungen kämpfte er um sein Gleichgewicht. Der Säbel fiel ihm aus der Hand und prallte klirrend auf den Boden der Gasse.
Robin gab dem Mann nicht die Gelegenheit, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Ein letzter, noch wuchtigerer Tritt ließ einen zweiten Balken von der Mauer rutschen. Der Krieger stürzte mit einem keuchenden Laut nach unten, schlug schwer auf dem Rücken auf und wurde von einem der beiden letzten Balken, die Robin wütend zur Seite fegte, getroffen.
Robin zögerte keine weitere Sekunde und fasste Nemeth bei der Hand; sie stürmte nach links, nicht in die Richtung, in der die meisten Sklaven verschwunden waren, sondern genau entgegengesetzt. Das Mädchen wehrte sich heftig, versuchte sich loszureißen und schrie immer lauter nach seiner Mutter, und auch die Schreie und Rufe hinter ihnen wurden heftiger. In dem Durcheinander glaubte sie, Omars Stimme auszumachen, der wütend Befehle erteilte. Ohne sich noch einmal umzublicken, stürzte sie davon, so schnell es ihr auf dem glitschigen Boden möglich war.
Das Wasser war nicht einmal kniehoch und doch erstaunlich kühl. Die steinerne Rinne hatte kein starkes Gefälle, sondern war gerade ausreichend geneigt, um das Wasser in eine bestimmte Richtung fließen zu lassen. Aber ihr Boden war so schlüpfrig, dass Robin mehrmals strauchelte. Einmal fiel sie auf Hände und Knie herab, wobei sie Nemeth um ein Haar losgelassen hätte. Irgendwie gelang es ihr, das Mädchen fest zu halten und sich wieder auf die Beine zu kämpfen. Sie spürte, wie rasch ihre Kräfte jetzt schwanden. Ihr Herz hämmerte, als wollte es aus ihrer Brust springen, und jeder einzelne Schritt schien ihr mehr Mühe abzuverlangen als der vorige.
Und die Verfolger kamen eindeutig näher. Das Aquädukt musste mittlerweile eine Höhe von fünf Schritt oder mehr erreicht haben und stieg sanft, aber stetig weiter an. So sicher sie hier oben auch für den Moment vor ihren Verfolgern sein mochte, so deutlich zeichneten sich die Umrisse von ihr und Nehmet vor dem Nachthimmel ab. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis einer von Omars Kriegern auf das Aquädukt hinaufkletterte, um sie auf dem gleichen Weg zu verfolgen - falls Omar nicht endgültig der Geduldsfaden riss und er seinen Männern gestattete, ihrer Flucht mit einem wohl gezielten Pfeil ein Ende zu bereiten.