Plötzlich fasste sie neuen Mut: Vor ihnen stieg das Aquädukt noch ein Stück weiter an und verschwand dann hinter einer Mauerkrone. Fünf oder sechs Meter darunter endete die Straße vor einer massiven Wand. Ihre Verfolger würden auf diesem Weg nicht weiterkommen, und auf der anderen Seite wäre sie wenigstens für einige Momente ihren Blicken entzogen.
Ohne darauf zu achten, dass sie auf dem glitschigen Untergrund ausrutschen und stürzen könnte, beschleunigte Robin ihre Schritte, bis sie den höchsten Punkt des Aquädukts erreicht hatte. Vor Freude hätte sie fast aufgeschrien, als sie sah, dass die künstliche Wasserstraße dahinter einen scharfen Knick machte und dann dicht an den flachen Dächern mehrerer zweigeschossiger Häuser vorbeiführte. Ohne innezuhalten zog sie das Mädchen hinter sich her und stürmte noch gut zwanzig oder dreißig Schritte weiter, ehe sie stehen blieb und sich umsah.
Robin konnte die wütenden Schreie der Verfolger hören, zu sehen waren sie jedoch nicht mehr. Auch die Wasserrinne des Aquädukts hinter ihnen blieb leer. Überall ringsum in den Straßen waren Rufe zu hören und hektischer Lärm. In vielen Häusern bemerkte sie das gelbe Licht frisch entzündeter Öllampen, aber Robin und das Mädchen schienen noch niemandem aufgefallen zu sein.
Robin blickte einen Moment lang nachdenklich auf die Spur aus Wassertropfen, die rechts und links auf dem steinernen Sims des Aquädukts im Mondlicht schimmerten. Wer immer hier heraufkam, würde diese Tropfenspur bemerken. Aber vielleicht war das auch ganz gut so.
Robin lief noch ein weiteres Dutzend Schritte, bis sie das Dach eines Hauses erreichten, das kaum einen Meter unter ihnen lag. Hastig ließ sie sich in die Hocke sinken, sodass sich ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem Nemeths befand. »Du musst jetzt ganz genau tun, was ich dir sage«, verlangte sie. »Sie werden gleich hier sein. Wenn wir auch nur einen winzigen Fehler machen, dann werden sie uns wieder einfangen und bestrafen. Hast du das verstanden?«
Das Mädchen blickte sie starr aus ihren großen, vor Tränen schimmernden Augen an. Erst nach einer schieren Ewigkeit nickte es.
»Gut«, sagte Robin erleichtert. »Ich lasse dich jetzt los. Du wirst nicht weglaufen?«
Nemeth schüttelte den Kopf.
Robin war nicht ganz sicher, ob sie diesem Versprechen Glauben schenken sollte, aber welche Wahl hatte sie schon? Schweren Herzens ließ sie Nemeths Arm los, ließ sich noch weiter in die Hocke sinken und schöpfte mit beiden Händen Wasser, um es auf den Rand des Aquädukts und vor allem auf das Dach des nächsten Hauses zu spritzen. Sie bedeutete dem Mädchen, ihr zu helfen, und Nemeth begann sofort, es ihr gleichzutun. Schließlich war Robin sich sicher, eine Pfütze geschaffen zu haben, die nun wirklich nicht mehr übersehen werden konnte.
Dann richtete sie sich auf, gab Nehmet ein Zeichen und lief noch ein ganzes Stück weiter, bis sie eine Stelle erreichten, an der ein Haus unmittelbar an das Aquädukt grenzte. Ganz vorsichtig stieg sie aus dem Wasser und riss sich den Schleier ab. Mit dem kostbaren Stück Stoff verwischte sie die silbern schimmernden Tropfen, die sie als Spur auf den Steinen des Aquädukts hinterlassen hatte. Anschließend reichte sie ihn Nehmet und suchte dann mit beiden Händen nach festem Halt am steinernen Sims des Aquäduktes, um sich auf das unter ihr liegende Hausdach gleiten zu lassen. Doch als sie sich an ihren ausgestreckten Armen ganz in die Tiefe sinken ließ, pendelten ihre Füße noch immer ein gutes Stück über dem fest gestampften Lehm des Daches.
Sie schloss die Augen und zählte in Gedanken bis drei, dann ließ sie los. Der Sturz dauerte nur Bruchteile einer Sekunde, und er war weit weniger hart, als sie erwartet hatte, aber als sie aufkam, rutschte sie seitlich weg. Instinktiv ließ sie sich über die Schulter abrollen und nutzte den Schwung, um sogleich wieder auf die Füße zu kommen. Rasch lief sie die zwei Schritte zu Nemeth zurück und streckte die Arme in die Höhe.
»Spring!«, befahl sie.
Nemeth zögerte. Robin konnte ihr Gesicht nur als hellen Schemen in der Dunkelheit über sich ausmachen, aber die Angst in den Augen des Mädchens konnte sie deutlich erkennen - eine ganz andere, viel handfestere Furcht nun, die sie durchaus nachvollziehen konnte.
»Keine Angst«, sagte sie. »Ich fange dich auf. Das verspreche ich!«
Zwei, drei quälend lange Herzschläge vergingen, dann raffte Nemeth all ihren Mut zusammen, stieg auf den Sims und ließ sich mit geschlossenen Augen in Robins ausgestreckte Arme fallen.
Diesmal war der Aufprall sehr viel härter, als sie erwartet hatte. Das Mädchen mochte noch um die dreißig Pfund wiegen, aber aus zwei Metern Höhe herab riss sein Gewicht Robin dennoch von den Füßen. Mit ihrer zerbrechlichen Last in den Armen hatte sie keine Möglichkeit, den Aufprall abzufedern. Sie kam schwer auf der Seite auf, fühlte einen stechenden Schmerz, der durch ihren Ellbogen bis in die Schulter hinaufschoss und in ihrem Rückgrat zu explodieren schien, und schrie nur deshalb nicht vor Qual auf, weil ihr Nemeths Gewicht alle Luft aus den Lungen presste.
Ganz in der Nähe erklangen Schreie, Rufe, und das Trappeln näher kommender Schritte. Aus den Augenwinkeln gewahrte Robin das hektische Tanzen von rotem Fackellicht in einer nahen Gasse. Halb benommen richtete sie sich auf und stellte Nemeth behutsam auf die Füße.
Das Hausdach und der schwarze Schlagschatten der Mauer boten ein gutes Versteck. Sie bedeutete Nemeth mit einer Geste, ihr den Schleier zurückzugeben und sich dann in den Schatten zu kauern. Robin dagegen richtete sich halb auf und versuchte mit dem Schleier, die gröbsten Wasserflecken fortzuwischen, die Nemeth und sie bei ihrer unsanften Landung auf dem Dach hinterlassen hatten. Mit ein wenig Glück würde die falsche Spur, die sie weiter vorne gelegt hatte, ihre Verfolger davon abhalten, sich dieses Dach hier genau anzusehen.
Robin legte den Umhang wieder an, überzeugte sich davon, dass der Schleier sicher vor ihrem Gesicht befestigt war, und huschte dann zu Nemeth hinüber. Die Wahl ihres Versteckes, so erbärmlich es auch sein mochte, war richtig gewesen. Selbst sie hatte Mühe, das Mädchen in der Finsternis, die im Schlagschatten der Wand herrschte, zu finden. Es war nur ein leises Weinen, das ihr den Weg wies.
»Hast du dir wehgetan?«, flüsterte Robin. Sie sah nervös nach oben. Ringsherum schwollen Lärm und Licht auf der Straße an, aber die steinerne Brücke über ihnen blieb immer noch leer.
»Wo ist meine Mama?«, schluchzte Nemeth. »Du hast gesagt, sie wird kommen.«
»Das wird sie auch«, antwortete Robin. »Es wird vielleicht eine Weile dauern, aber du wirst sie wiedersehen.«
»Das ist nicht wahr«, schluchzte Nemeth. »Sie haben sie gefangen. Sie werden sie bestrafen oder vielleicht sogar töten.«
»Bestimmt nicht«, antwortete Robin. Sie kam sich richtig schäbig vor bei diesen Worten, - eine weitere Lüge, die zu plump war, als dass auch nur ein siebenjähriges Kind darauf hereinfallen konnte. Dennoch fuhr sie mit leiser, sehr ernster Stimme fort: »Wir werden deine Mutter suchen und befreien, das verspreche ich dir. Omar wird ihr nichts zuleide tun.«
Und noch ein Versprechen, das sie nicht würde halten können. Robin musste sich plötzlich mit aller Macht beherrschen, um nicht selbst in Tränen auszubrechen. Sie fragte sich, wie viele der Männer und Frauen, die sie zu diesem irrsinnigen Fluchtversuch überredet hatte, ihren Mut bisher schon mit dem Leben bezahlt hatten, und wie viele es noch werden würden, bis diese Nacht vorüber war.
»Warum nicht?«, fragte Nemeth.
»Weil er weiß, dass ich ihn dann töten würde«, sagte Robin. Sie hatte das gar nicht sagen wollen. Sie wollte in Gegenwart dieses Kindes nicht weiter von Gewalt und Tod und Sterben reden. Aber die Worte waren fast ohne ihr Zutun über ihre Lippen gekommen, und es lag eine solche Entschlossenheit darin, dass selbst Nemeth sie spüren musste, denn sie stellte keine weitere Frage mehr und hörte sogar auf zu weinen.