»Wir müssen jetzt ganz leise sein«, sagte Robin. »Sie werden gleich hier sein, um nach uns zu suchen. Bleib hier. Ganz egal, was geschieht, gib keinen Laut von dir, bis ich zurück bin. Versprichst du mir das?«
Nemeth starrte sie nur an und Robin deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Sie sah erneut zum Aquädukt hoch, dann ließ sie ihren Blick aufmerksam über das flache Dach des zweigeschossigen Gebäudes schweifen. Sie musste nicht lange suchen: eine gut einen Meter im Quadrat messende, hölzerne Klappe mit einem schweren eisernen Ring, um sie aufzuziehen. Darunter musste eine Treppe ins Haus hinabführen. Robin hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie dort erwarten würde, aber bisher war es unter ihnen still geblieben. Niemand schien das Geräusch gehört zu haben, mit dem Nemeth und sie auf dem Dach aufgeprallt waren.
Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, als sie über sich verräterische Geräusche wahrnahm: hastige Schritte, die durch das Wasser des Aquädukts platschten. Erschrocken prallte sie zurück, presste sich neben Nemeth mit dem Rücken gegen die Wand und blickte mit angehaltenem Atem nach oben.
Das Mondlicht warf die Schatten von zwei, drei und schließlich vier Männern vor ihnen auf das Dach, die in der Wasserrinne des Aquädukts rasch näher kamen. Ihr Herz schien mitten im Schlag auszusetzen, als sie zu sehen glaubte, wie eine der Gestalten im Schritt verhielt und zu ihnen herabsah. Aber es war nur ein böser Streich, den ihr ihre überreizten Nerven spielten. Die Männer stürmten ohne innezuhalten weiter und folgten damit wohl der falschen Spur, die sie gelegt hatte.
Robin wagte kaum zu hoffen, dass der simple Trick mit der vorgetäuschten Wasserspur Erfolg haben könnte, aber sie wurde eines Besseren belehrt. Am Dach des Hauses angelangt, auf das sie Wasser verspritzt hatten, wechselten die Männer ein paar hastige Worte und sprangen dann ohne zu zögern in die Tiefe. Einen kurzen Moment lang konnte Robin noch ihre Silhouetten erkennen, dann hatten sie eine Klapptür gefunden und verschwanden einer nach dem anderen im Haus.
»Schnell jetzt!« Robin war mit zwei weit ausgreifenden Schritten bei der Dachluke, packte mit beiden Händen nach dem eisernen Ring und zerrte ihn in die Höhe. Die Angeln quietschten hörbar und in der vollkommenen Dunkelheit unter der Dachluke gaukelten ihr ihre Nerven Bewegung und Lärm vor. Doch es war noch immer still.
Aber das würde nicht lange so bleiben. Ihre Verfolger würden schon sehr bald begreifen, dass ihre Beute sie an der Nase herumgeführt hatte. Und spätestens dann würden sie ein Haus nach dem anderen durchsuchen.
Robin verwarf den Gedanken, sich in dem Gebäude unter ihnen zu verstecken, ebenso rasch wieder, wie er ihr gekommen war. Sie hatten nicht mehr als eine weitere, winzige Gnadenfrist gewonnen. Aber vielleicht ergaben viele kleine Chancen ja eine große.
Sie bedeutete Nemeth mit einer Handbewegung, ihr ohne ein Wort zu folgen, dann wandte sie sich um und tastete mit dem Fuß in die Dunkelheit unter sich hinein. Es gab keine Treppe, sondern nur eine Leiter, die hörbar unter Robins Gewicht ächzte. Ohne auf verräterische Geräusche zu achten, stieg Robin die unsichtbaren Sprossen hinab, trat einen Schritt zurück und sah ungeduldig zu Nemeth hoch. Das Mädchen schien sich davor zu fürchten, ihr in die Dunkelheit hinab zu folgen.
»Bitte, beeil dich!«, flüsterte Robin. »Wir müssen hier weg!«
Hinter ihr polterte etwas. Robin fuhr erschrocken herum und riss die Augen auf. In der fast vollkommenen Dunkelheit konnte sie jedoch rein gar nichts erkennen. Einen Moment später wiederholte sich das Poltern, dann fragte eine ebenso verschlafen wie auch leicht beunruhigt klingende Frauenstimme: »Was ist los, Said? Kann man denn niemals seine Ruhe haben?«
Robins Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit in der Kammer. Sie sah noch immer nur Schemen und ungleich verteilte Bereiche von hellem und dunklerem Grau und nicht weit entfernt glaubte sie, ein regelmäßig geformtes Rechteck auszumachen, das eine Tür sein konnte.
»Wer ist da?« Die Frauenstimme klang jetzt wacher und deutlich beunruhigt.
Doch Robin beachtete sie nicht weiter und tastete sich mit unsicher ausgestreckten Armen durch die Dunkelheit. Dabei stieß sie etwas mit dem Knie um. Im selben Moment hörte sie auch schon, wie ein Krug umstürzte und seinen Inhalt auf den Boden ergoss.
Irgendwo links von ihr stieß die Frauenstimme einen entsetzlich lauten Schreckensschrei aus.
»Nemeth! Zu mir!« Robin sprang blindlings vor, tastete mit fliegenden Fingern über die Tür und fand einen eisernen Ring. Einen Moment lang rüttelte sie vergeblich und mit aller Kraft daran. Schließlich kam sie auf die Idee, daran zu ziehen, und die Tür schwang mit einem erbärmlichen Quietschen in den Raum hinein.
Das Zimmer dahinter besaß zwei große Fenster, durch die das Mondlicht und der flackernde rote Schein der Fackeln draußen auf der Straße hereindrangen, sodass sie endlich wieder etwas sehen konnte. Die Frau hinter ihr schrie noch immer. Robin betete, dass ihre Schreie im Straßenlärm untergingen und sie niemand bemerkte.
Im Haus selbst wurde ihr dieses Glück jedoch nicht vergönnt. Robin war noch nicht ganz ins Zimmer getreten, da flog eine weitere Tür auf der anderen Seite der Kammer auf und ein Mann mittleren Alters mit zerzaustem Haar und einem struppigen Bart stürmte herein. Er hatte nichts weiter als ein Tuch um die Hüften geschwungen und war barhäuptig. In der linken Hand trug er eine kleine Öllampe, deren gelbe Flamme mehr Ruß als Licht verbreitete, aber seine Rechte umklammerte einen gekrümmten, zweischneidigen Dolch.
Robins Anblick schien ihn mindestens ebenso zu überraschen wie sie der seine, aber er wirkte nicht wirklich erschrocken, sondern eher verwirrt. Augenscheinlich hatte er mit einem Dieb gerechnet, keineswegs mit einer verschleierten Haremsdame und einem Kind. Allein die Art, in der er den Dolch hielt, machte Robin klar, dass dieser Mann kein ernst zu nehmender Gegner für sie war. Er hielt das Messer wie jemand, der lieber Zwiebeln damit schnitt, statt sich auf eine Messerstecherei einzulassen.
Trotzdem blieb sie auf der Hut. Sie hatte an diesem Tag schon zu viele Fehler gemacht, um sich noch einen weiteren leisten zu können. »Verzeiht die späte Störung, edler Herr«, sagte sie, in einem ängstlichen, unsicheren Ton. Wie beiläufig zog sie Nemeth hinter sich ganz durch die Tür und schob sie ein Stück zur Seite, während sie selbst einen Schritt auf den Bärtigen zutrat. »Ist das hier nicht das Haus des edlen Mustafa?«
»Mustafa?« Das Misstrauen in den Augen des Arabers wich nun endgültig Verblüffung und Hilflosigkeit. Er starrte sie einen kurzen Moment sprachlos an, dann machte er eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Nicken und einem Achselzucken lag. »Mustafa der Tapfere?«
Robin deutete ein Nicken an. Sie hatte bewusst einen Namen gewählt, der gewöhnlich genug war, damit mit einiger Wahrscheinlichkeit irgendjemand in dieser Straße so hieß. »Mein Herr Omar Khalid hat mich geschickt, um den Herrn des Hauses zu erfreuen«, sagte sie. »Ihr seid nicht...?«
»Omar Khalid, der Sklavenhändler?« Es fiel ihrem Gegenüber sichtlich schwer, den Sinn dieser Worte zu erfassen, aber darauf kam es nicht an. Robin war nur noch zwei Schritte von ihm entfernt, und er schöpfte keinen Verdacht. Auch nicht, als sie demütig zu Boden blickend und mit gesenktem Haupt noch näher kam.
»Mustafa wohnt zwei Häuser weiter, aber ich glaube nicht, dass er...«
Sie war nahe genug. Der Mann sah den Tritt nicht einmal kommen, der sein Handgelenk traf und ihm den Dolch aus den Fingern prellte. Noch bevor die Waffe klirrend gegen die Wand donnerte, rammte ihm Robin den Ellbogen in den Magen. Der Araber fiel auf die Knie und japste nach Luft. Robin grub die Finger beider Hände in sein gelocktes Haar und schmetterte seine Stirn mit genügend Kraft auf den Boden, sodass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor.