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Über ihnen im Haus erscholl ein dumpfes Poltern und wieder das spitze Schreien der Frau; die Laute rissen Robin in die Wirklichkeit zurück. Sie eilte zur Tür, winkte Nemeth herbei und streckte gleichzeitig die andere Hand nach dem Griff aus.

»Robin!«, sagte Nehmet leise.

Sie hielt inne und drehte sich ungeduldig zu dem Mädchen herum: »Was ist denn noch?«

Nemeth schüttelte den Kopf und hob die Hand ans Gesicht. »Dein Schleier.«

Ein jäher Schrecken durchfuhr Robin, als sie die Hand hob und feststellte, dass sie tatsächlich vergessen hatte, den schwarzen Schleier abzunehmen. In Nemeths Augen blitzte es kurz und amüsiert auf, aber Robin fand dieses kleine Versehen nicht im Geringsten komisch. Ein Fehler wie dieser konnte sie draußen auf der Straße den Kopf kosten. Sie sah in ihrer Verkleidung ohnehin vermutlich ziemlich lächerlich aus und konnte nur darauf hoffen, dass draußen in den Gassen der Stadt mittlerweile genug Durcheinander herrschte, um ihr prüfende Blicke zu ersparen. Aber ein kleinwüchsiger Mann in einem viel zu großen Kaftan und einem Schleier vor dem Gesicht würde selbst dem dümmsten ihrer Verfolger auffallen. Mit einer zornigen Bewegung riss sie das unnütze Ding ab, bedankte sich mit einem wortlosen Nicken bei Nemeth und öffnete die Tür.

Schon der erste Schritt aus dem Haus wurde zur Nagelprobe für ihre Verkleidung. Sie hatte ihn noch nicht einmal ganz zu Ende gebracht, als eine Gestalt von links herangestürmt kam und so wuchtig gegen sie prallte, dass sie das Gleichgewicht verlor und schwer gegen den Türrahmen stürzte. Auch der andere strauchelte, fand mit einem hastigen Ausfallschritt jedoch seine Balance wieder und wirbelte wütend zu ihr herum. Robins Herz machte einen Sprung, als sie einen von Omars Kriegern erkannte.

»Pass doch auf, Dummkopf!«, schrie der Araber. Seine Augen flammten vor Wut, und einen kurzen, aber schrecklichen Moment war Robin davon überzeugt, dass er sie erkannt hatte. Dennoch zwang sie sich, seinem Blick Stand zu halten. Kaum einer von Omars Kriegern hatte jemals ihr Antlitz zu Gesicht bekommen und plötzlich spürte sie eine flüchtige Sympathie für die Sitten dieses Landes, die sie genötigt hatten, dem anderen Geschlecht nur verhüllt unter die Augen zu treten.

Genau das rettete sie jetzt. Nach einem letzten wütenden Blick wandte sich der Mann ab und rannte weiter. Robin richtete sich vorsichtig am Türrahmen wieder auf und atmete erleichtert aus. Sie spähte aufmerksam nach rechts und links, bevor sie zum zweiten Mal dazu ansetzte, das Haus zu verlassen.

Die Gasse, die kaum breiter als einen Meter war und auf der gegenüberliegenden Seite von einer gut sechs Meter hohen Wand begrenzt wurde, war leer, aber an beiden Enden erkannte sie flackernden roten Feuerschein und zahlreiche, hin und her hastende Gestalten. Sie versuchte noch einen Moment lang, sich zu orientieren, musste sich dann aber eingestehen, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, welche Richtung sie nun einschlagen sollte. Vermutlich war das sowieso egal. Sie ergriff Nemeths Hand und ging so schnell wie möglich, ohne wirklich in einen Laufschritt zu verfallen. Das Mädchen sah mehrfach verstört zu ihr hoch, aber es schien jetzt wenigstens seine Angst vor ihr verloren zu haben.

»Wohin gehen wir?«, fragte Nemeth nach einer Weile.

»Still!«, zischte Robin. Nach einem Moment und leiser fügte sie hinzu: »Ich weiß es noch nicht. Erst einmal weg hier. Irgendwohin, wo es ruhiger ist. Vielleicht aus der Stadt heraus.«

»Aber du hast versprochen...«

»Wir werden deine Mutter holen«, unterbrach sie Robin. »Aber das können wir nicht, wenn sie uns vorher erwischen, verdammt noch mal!«

Nemeth erwiderte nichts, und Robin hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Die Worte hatten ihr schon Leid getan, noch ehe sie sie ganz ausgesprochen hatte. Wollte sie es diesem Kind wirklich verdenken, dass es verunsichert war und ihr nicht mehr traute?

Dann hatten sie das Ende der Gasse erreicht. Vor ihr lag ein weiterer, an drei Seiten von dicht stehenden Häusern begrenzter Platz, auf den gleich ein halbes Dutzend Straßen hinausführte. Das Durcheinander war unbeschreiblich. Hunde kläfften und knurrten, dass einem das Blut in den Adern gefror. Robin hörte das Klirren von Waffen, das wütende Geschrei von Männern sowie hektischen Hufschlag, und gerade als sie aus der Gasse heraustrat, sprengte ein Trupp von vier Reitern auf den Platz heraus, angeführt von Omar Khalid selbst und seinem ganz in Schwarz gekleideten Leibwächter.

Der martialische Auftritt des Sklavenhändlers ließ die Stimmung überkochen. Weder Omar noch seine Begleiter schienen geneigt, auch nur die geringste Rücksicht auf die Menschen vor ihnen zu nehmen. Robin musste mit ansehen, wie zwei Männer nicht schnell genug zur Seite sprangen und einfach niedergeritten wurden, doch dann blieben die Pferde hoffnungslos in der Menschenmenge stecken. Schmerzensschreie gellten auf. Eines der Tiere stieg mit einem schrillen Wiehern auf die Hinterbeine und warf seinen Reiter ab. Einer der beiden Sklaven, die mittlerweile überwältigt worden waren, nutzte das Durcheinander, um sich loszureißen und in der Menge unterzutauchen. Bevor er verschwand, sah Robin noch, dass er aus einem tiefen Schnitt quer über die Stirn blutete.

»Dort!« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die andere Seite des Platzes, wo sich die schmale Gasse fortsetzte, durch die sie gekommen waren. Hinter dem flackernden Licht, das den Platz erhellte, wirkte sie wie eine Schlucht aus schwarzer Nacht. Die Dunkelheit dort drüben war im Moment vermutlich ihr sicherster Verbündeter. Sie ließ Nemeths Arm los, trat hinter das Mädchen und legte ihm die Hand auf die Schulter, um es mit sanfter Gewalt vor sich her zu dirigieren.

Schnell, aber ohne zu rennen und damit vielleicht aufzufallen, drängten sie über den Platz und steuerten die Fortsetzung des schmalen Mauerweges an. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, wohin er führte, aber ein Weg, der sie hier wegbrachte, verhieß Rettung. Vielleicht gelang es ihr womöglich, den Fluss zu erreichen, um dort ein kleines Boot zu stehlen, mit dem sie schneller und vor allem ungesehen aus der Stadt herauskamen. Mit sehr viel Glück schafften sie es vielleicht sogar bis zum offenen Meer.

Sie hatte den Platz fast überquert, als hinter ihr ein scharfer Ruf erklang. Die Nacht war voller Schreie und Lärm und dennoch wusste sie, dass man sie gemeint hatte. Trotzdem ging sie stur weiter und irgendwie gelang es ihr sogar, den Impuls zu unterdrücken, sich Nemeth einfach unter den Arm zu klemmen und loszurennen.

»Du sollst stehen bleiben, habe ich gesagt!« Die Stimme klang jetzt eindeutig wütend. Robin glaubte, inmitten des Lärms schwere Schritte zu hören, die sich an ihre Fersen geheftet hatten. Aber die rettende Gasse lag jetzt so dicht vor ihr. Noch zwei Schritte, dann einer. Sie erreichte die schützende Dunkelheit im selben Augenblick, in dem sich eine harte Hand auf ihre Schulter legte und sie wütend herumriss.

»Wo du hin willst, habe ich dich gefragt! Wieso läufst du mit einem Kind durch die Straßen? Weißt du denn nicht, dass es einen Sklavenaufstand gegeben...«

Der Mann verstummte mitten im Wort, als sich Robin gänzlich herumgedreht hatte und er in ihr Gesicht starrte. Auch er gehörte zu Omars Wächtern - und nicht nur Robin hatte ihn, sondern er hatte auch sie erkannt. Auf seinem breiten, groben Gesicht erschien ein Ausdruck ungläubiger Überraschung. Dann ließ er ihre Schulter los. Robin trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück, hob den Schildarm etwas höher und wischte mit einer schnappenden Bewegung aus dem Handgelenk heraus die Hülle aus Ziegenfell von der Klinge des Krummsäbels. Sie begriff mit einem Male, dass ihre Flucht hier und jetzt zu Ende war, und sie wollte diesen Mann so wenig töten wie den Wächter oben auf ihrem Zimmer, aber sie würde lieber im Kampf sterben, als sich erneut gefangen nehmen zu lassen.