Die Reaktion des Kriegers war jedoch völlig anders, als sie erwartet hatte. Er trug ein blank gezogenes Schwert in der rechten sowie eine heftig flackernde Pechfackel in der linken Hand, und er stand in der eindeutig besseren Position für einen Angriff da, aber er stürzte sich weder auf sie, noch schrie er nach seinen Kameraden. Robin war nicht ganz sicher, ob die Verblüffung auf seinem Gesicht eher den Männerkleidern galt, die sie trug, oder ihren Waffen, aber gleichwie: Sie verschaffte ihr die winzige Zeitspanne, die sie brauchte. Sie ließ den Säbel fallen, hob die plötzlich frei gewordene Hand an seine Brust und zerrte ihn zu sich in die Gasse herein. Er schien so überrascht, dass er nicht einmal auf die Idee kam, Widerstand zu leisten, - er machte nur einen ungeschickt stolpernden Schritt, um nicht zu stürzen.
Robin rammte ihm die Schildkante in den Leib, genau an jene Stelle zwischen die Rippen, die Salim ihr gezeigt hatte, und mit solcher Wucht, dass der Krieger das Bewusstsein verlor, noch bevor er zusammenbrach. Ungeschickt fing Robin ihn auf, taumelte unter seinem Gewicht zwei Schritte weiter in die Gasse hinein und prallte schließlich mit dem Rücken hart gegen die Wand. Das Gewicht des schlaffen Körpers ließ sie auf die Knie fallen, und sie wäre sicherlich ganz gestürzt, wäre Nemeth nicht hinzugesprungen und hätte ihr geholfen. Keuchend arbeitete sich Robin unter dem bewusstlosen Mann hervor, schenkte Nemeth ein dankbares Nicken und griff dann unter seine Achseln, um ihn noch weiter in die Gasse hineinzuziehen, bis sie sicher war, dass er von außen nicht mehr gesehen werden konnte.
Er hatte Fackel und Schwert fallen gelassen. Robin hob es auf, wog es einen Moment prüfend in der Hand und beschloss dann, es anstelle des Krummsäbels zu behalten, der ohnehin kaum mehr als ein Spielzeug gewesen war. Diese Waffe war schwerer, dafür nicht so lang, und sie lag fast so gut in ihrer Hand wie ihr eigenes Breitschwert, das sich jetzt vermutlich mit allen anderen Beutestücken irgendwo in Omars Schatzkammer befand. Als Letztes hob sie die Fackel auf, die dem Krieger entglitten war. So gab sie zwar den Schutz der Dunkelheit preis. Aber ein Mann, der eine Fackel trug und in ihrem flackernden Schein die Gasse absuchte, würde im Moment vermutlich weniger auffallen als eine Gestalt, die sich im Dunklen herumdrückte.
Nemeth sah ihr mit einer Mischung aus Bewunderung und Staunen entgegen, als sie sich herumdrehte. »Und du bist ganz sicher, dass du kein Dschinn bist?«, fragte sie.
»Ganz sicher«, bestätigte Robin.
Das Mädchen nickte nachdenklich, sah auf den reglosen Krieger herab und dann mit gerunzelter Stirn in Robins Gesicht. »Es ist also bei euch Ungläubigen üblich, dass die Frauen ihre Männer verprügeln?«
Diesmal kostete es Robin Mühe, nicht laut loszulachen. Ihr war nicht nach Albernheiten zumute, und Nemeth hatte auch keineswegs einen Scherz machen wollen. Aber in diesem Moment beneidete Robin sie um diese kindliche Unverstelltheit wie um nichts anderes in der Welt. »Wir sprechen später darüber«, sagte sie. »Jetzt lass uns gehen. Ich glaube, dort hinten ist es ruhiger.«
Sie deutete mit einer Kopfbewegung in die Gasse hinein. Irgendwo an ihrem Ende brannte ebenfalls Licht, aber es war nur der gelbe Schein einer Öllampe, der aus einem Fenster fiel, nicht das hektische Hin und Her von Fackeln, die von rennenden Männern geschwenkt wurden. Sie erinnerte sich an die Worte des Kriegers, der von einem Sklavenaufstand berichtet hatte. Wenn man bedachte, dass wahrscheinlich nicht mehr als einem Dutzend Männern und Frauen die Flucht aus dem Hof gelungen war, so war das hoffnungslos übertrieben. Aber auf der anderen Seite wusste sie auch, wie schnell Gerüchte, gerade in einer Situation wie dieser, die Runde machten. Wenn die Bewohner von Hama wirklich glaubten, es mit einer ausgewachsenen Sklavenrevolte zu tun zu haben, dann würde bald die nackte Panik in der Stadt um sich greifen; eine bessere Gelegenheit zu entkommen konnte sie sich kaum wünschen.
Robin beschleunigte ihre Schritte und wandte ein paar Mal den Kopf, um die Gasse hinter sich im Auge zu behalten. Schließlich blieb sie wieder stehen. Sie mussten sich mittlerweile gut hundert Schritte vom Platz und damit von Omar und dem Großteil seiner Männer entfernt haben. Ohne zu zögern warf sie die Fackel zu Boden und trat sie aus. Die Dunkelheit schlug wie eine erstickende Woge über ihnen zusammen.
Für einen Moment drohte Robin in Panik zu geraten, als sie einen riesigen Schatten wahrzunehmen glaubte, der hinter ihr in der Gasse emporwuchs. Dann wurde ihr klar, dass es nur eine Täuschung war. Ein weiteres Wunder! Niemand hatte sie bemerkt, niemand verfolgte sie.
»Haben wir es geschafft?«, flüsterte Nemeth.
Robin zuckte mit den Schultern, obwohl ihr klar wurde, dass das Mädchen die Bewegung in der fast vollkommenen Dunkelheit nicht sehen konnte. Sie hätte ihre Frage bejahen müssen, schon um Nemeth zu beruhigen, aber es widerstrebte ihr, sie zu belügen. »Ich hoffe es«, sagte sie. »Kennst du den Weg zum Fluss hinunter?«
»Nein. Ich war niemals hier.«
Ebenso wenig wie Robin. Aber wie es aussah, waren sie zumindest für den Moment in Sicherheit, und Robin gedachte, diese Atempause zu nutzen, bevor sie sich einer neuen Herausforderung zuwandte. Ihr ganzer Körper fühlte sich zerschlagen an und dort, wo der Krieger ihren Oberschenkel getroffen hatte, war der Schmerz fast unerträglich. Sie musste sich eingestehen, dass sie mit ihren Kräften beinahe am Ende war, und Nemeth konnte es kaum besser ergehen. Es war überhaupt erstaunlich, dass das Mädchen sich noch so gut hielt - schließlich hatte es eine ganze Weile im Sklavenverlies hinter sich. Robin bewunderte im Stillen die Tapferkeit dieses Kindes und sie betete, dass sie auch weiter anhalten möge. Ebenso wie ihre eigene.
Plötzlich erwachte die Dunkelheit vor ihr zum Leben. Der Hund hatte nicht den geringsten Laut von sich gegeben, kein Bellen, kein Knurren, kein verräterisches Hecheln oder Schnüffeln, nicht einmal das Scharren harter Krallen auf gepflastertem Boden; er war von einem Herzschlag auf den anderen einfach da, als hätte sich die Dunkelheit selbst zu schwarzer Materie zusammengeballt und den riesigen Bluthund ausgespien. Nemeth stieß einen gellenden Schrei aus und wich zurück; Robin fand gerade noch Zeit, das Mädchen hinter sich zu zerren und den Schildarm schützend vor ihr Gesicht zu heben.
Alles ging viel zu schnell, als dass sie auch nur noch einen einzigen klaren Gedanken hätte fassen können. Selbst wenn die Gasse nicht zu eng gewesen wäre, um das erbeutete Schwert zu schwingen und den Angriff des Hundes damit abzuwehren, so wäre ihr nicht annähernd genug Zeit dazu geblieben. Der Hund, ein riesiges, mindestens sechzig oder siebzig Pfund wiegendes Tier, stieß sich mit einer kraftvollen Bewegung ab und prallte mit solcher Wucht gegen Robins hochgerissenen Schild, dass er sie einfach von den Füßen gerissen hätte, wäre sie nicht gegen die Wand geschleudert worden. Auch so verlor sie den Halt und stürzte mit so unglücklich verdrehtem Bein nach hinten, dass ihr für einen Moment vor Schmerz übel wurde.
Das Schwert entglitt ihrer Hand und verschwand irgendwo klappernd und unerreichbar in der Dunkelheit. Dann war der Bluthund wieder über ihr, ein knurrendes, geiferndes Ungeheuer, dessen Krallen wie stumpfe Dolche über ihren Schild fuhren und das zähe Leder zerfetzten, als wäre es nichts weiter als Papier.
Seine gewaltigen Kiefer schnappten nach ihrer Kehle, die sie nur verfehlten, weil Robin im allerletzten Moment verzweifelt den Kopf so weit in den Nacken warf, wie sie konnte. Dabei knallte ihr Hinterkopf abermals und noch viel härter diesmal auf das Straßenpflaster. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie spürte, wie ihre Kräfte wichen und sie das Bewusstsein zu verlieren drohte. Hinter ihr schrie Nemeth schrill auf und dann hörte sie das Knurren eines zweiten, vielleicht sogar eines dritten Hundes sowie das Klacken rasiermesserscharfer Krallen, die sich in rasendem Tempo näherten.