»Bei Allah!«
»Du weißt, was das ist«, vermutete Robin.
Nemeth nickte zögerlich. Ihr Blick hing wie gebannt an dem fünfzackigen Stern und sie streckte eine Hand vor, als wollte sie fürchterliches Unheil von sich abwenden.
»Sag es mir«, verlangte Robin.
»Ich weiß nicht, wie... wie man so etwas nennt«, murmelte Nemeth. »Aber die Ismailiten benutzen so etwas.«
»Die Ismailiten?« Robin wurde hellhörig. »Was sagst du da? Du weißt von den Ismailiten? Wer sind sie?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Nemeth. Ihre Stimme zitterte vor Angst. Robin spürte, dass sie nicht die Wahrheit sagte. »Sie sind... man sagt, sie seien Geister. Böse Dämonen, die die Nacht in der Wüste wohnen und nur Unheil und Tod bringen.«
»Nemeth, bitte«, sagte Robin eindringlich. Sie zog die Hand zurück, als sie sah, dass das Mädchen noch immer voller Panik auf den Eisenstern in ihrer Handfläche starrte. »Das ist wichtig. Ich muss wissen, wer diese Leute sind. Was sie sind.«
»Ich weiß es nicht!«, behauptete Nemeth. »Niemand spricht über sie. Wenn man über sie redet, dann kommen sie, um einen zu töten oder einem noch Schlimmeres anzutun.«
Robin gab auf. Sie spürte, dass sie von dem Mädchen jetzt nicht mehr erfahren würde. Vielleicht war das auch gut so. Es war sowieso unglaublich, wie tapfer die Kleine die letzten Stunden überstanden hatte.
In trüben und gleichermaßen kraftlosen Gedanken gefangen, hätte sie die sonderbare Waffe beinahe eingesteckt. Doch dann legte sie sie angewidert wieder auf dem Boden ab, richtete sich auf und drehte sich mit einem entschlossenen Ruck um. Soweit sie beurteilen konnte, waren sie und Nemeth die einzigen lebenden Wesen hier. Aber das konnte täuschen, wie der Angriff der Hunde gerade bewiesen hatte. Und vor allem beunruhigte sie ein Gedanke: Wo Bluthunde waren, da waren im Allgemeinen auch Hundeführer.
»Komm!«, sagte sie. »Wir müssen weiter!«
»Und du bist ganz sicher, dass du auch wirklich kein Dschinn bist?«, fragte Nemeth fast unhörbar.
Robin lachte leise. »Diese Frage beantworte ich dir, wenn wir hier raus sind.«
Im selben Moment bedauerte sie bereits ihre Worte. Es war absolut unnötig, das Mädchen jetzt auch noch mit dummem Gerede zu verunsichern. Sie streckte die Hand aus, um ihm beruhigend über den Kopf zu fahren.
Als Nemeth erschrocken zurückzuckte, ließ Robin den Arm sofort wieder sinken. Plötzlich spürte sie einen bitteren Kloß in der Kehle. So unglaublich die Glückssträhne zu sein schien, die sie an diesem Abend hatte - vielleicht war der Preis, den sie dafür zahlen musste, am Ende doch zu hoch.
Ohne einen weiteren Zwischenfall erreichten sie das jenseitige Ende der Gasse. Einen verzweifelten Moment lang zögerte sie, den Schutz der menschenleeren Gasse zu verlassen, denn vor ihnen war die Nachtstille dem Flackern zahlreicher Lichter und nervös umherhastender Menschen gewichen. Wenigstens bemerkte sie keine Krieger, keinen von Omars Männern und auch sonst niemanden, der irgendwie verdächtig erschien - was vielleicht auch daran lag, dass diese Gegend weitaus ärmlicher wirkte als die, die sie bereits hinter sich gelassen hatten.
Unter diesen Bedingungen blieb ihnen kaum eine andere Wahl, als dem einmal eingeschlagenen Weg zu folgen. Wenn ihr Orientierungssinn sie nicht völlig im Stich gelassen hatte, dann mussten sie sich jetzt ungefähr auf halbem Wege zwischen Omars Haus und dem Fluss befinden, - somit auf halbem Weg zur Freiheit. Wenn ihre Glückssträhne auch nur noch so lange anhielt, dass sie den vor ihnen liegenden Platz überqueren und in das Labyrinth schmaler Sträßchen und Gassen dahinter eintauchen konnten, dann waren sie endgültig gerettet.
Sie hielt nicht an. Wenn es so etwas wie ein allmächtiges, lenkendes Schicksal wirklich gab, dann hatte sie ihren Kredit bei ihm in dieser Nacht eindeutig überzogen. Robin und Nemeth hatten gerade die Mitte des Platzes erreicht, als hinter ihnen ein erschrockener Ruf aus der Gasse drang. Vielleicht wäre alles gut gegangen, denn die Nacht war voller durcheinander schreiender Stimmen und hundertfachem anderem Lärm, aber Robin wusste nur zu gut, was dieser Schrei bedeutete - und diesmal tat sie das Falsche.
Sie fuhr erschrocken zusammen, packte Nemeth bei der Hand und rannte los. Natürlich erregte sie damit die Aufmerksamkeit des halben Dutzends Männer auf der anderen Seite des Platzes. Zwei oder drei von ihnen wichen überrascht zurück, als sie die Gestalt in dem zerfetzten, blutbesudelten Kaftan auf sich zurasen sahen, zwei andere, etwas beherztere Männer jedoch vertraten ihr den Weg. Obwohl sie nur mit Knüppeln und kurzen Messern bewaffnet waren, machte der grimmige Ausdruck auf ihren Gesichtern Robin sofort klar, dass sie nicht kampflos zurückweichen würden.
Und sie beging noch einen Fehler: Wäre sie einfach weiter gestürmt und hätte den Moment der Überraschung und den Schwung ihres Laufs genutzt, wäre es ihr vielleicht ein Leichtes gewesen, die beiden Männer zu überrumpeln und auszuschalten; wahrscheinlich sogar, ohne sie dabei ernsthaft zu verletzen. Aber sie blieb stehen. Ihre Fantasie spielte ihr einen bösen, alles entscheidenden Streich. Für einen Moment sah sie noch einmal das Gesicht des sterbenden Soldaten oben in ihrem Zimmer vor sich, glaubte wieder den Ausdruck verständnislosen Entsetzens in seinen Augen zu sehen und spürte erneut die schmerzende Erkenntnis, einen Menschen getötet zu haben, der nicht wirklich ihr Feind gewesen war.
Als der Moment vorüber war, hatte sich das Bild vor ihr vollends geändert. Zu den beiden Männern, die ihr den Weg in die Gasse hinein verwehrten, hatte sich ein dritter gesellt und die grimmige Entschlossenheit und Furcht war aus ihren Gesichtern gewichen. Einer der Männer blinzelte nur verstört, die beiden anderen blickten sie hin und her gerissen zwischen Verblüffung und einer Art hysterischer Heiterkeit an, die Robin im ersten Moment überhaupt nicht verstand. Die drei waren keine Krieger, sondern normale Männer aus der Stadt: Handwerker, Fischer, Bauern oder Händler. Kein Wunder, dass sie Angst hatten. Wenn auch jeder von ihnen Robin um mehr als Haupteslänge überragte, so trug sie doch einen Schild am linken Arm und ein gut meterlanges Schwert mit einer blutbesudelten Klinge in der rechten Hand.
Und einen weißen Turban, der sich im Verlauf des Kampfes mit dem Hund gelöst hatte und nun vollends von ihrem Haupt rutschte, sodass er wie ein Schal über ihrer rechten Schulter lag. Robins Haar war zwar noch immer so kurz geschnitten wie das eines Mannes, aber selbst in dem flackernden Licht, das auf dem Platz herrschte, konnte wohl niemand mehr übersehen, dass kein Krieger, sondern eine junge Frau vor ihm stand.
»Oje«, murmelte Robin. Laut sagte sie: »Gebt den Weg frei! Ich muss dieses Mädchen zu Omar Khalid bringen!«
Einer der drei Männer - der Einzige, der so etwas Ähnliches wie eine Waffe in der Hand hielt - legte den Kopf auf die Seite und trat einen halben Schritt auf sie zu, statt zurückzuweichen. »Omar Khalid?«, fragte er misstrauisch. »Was hast du mit Omar Khalid zu schaffen?«
»Was geht dich das an?«, fragte Robin unfreundlich. »Gib den Weg frei. Ich bitte dich kein drittes Mal.«
Sie machte eine drohende Bewegung mit dem Schwert, die ihre angestrebte Wirkung verfehlte. Die Waffe war blutig. Von ihrer Hand tropfte Blut, und ihre Kleider waren zerrissen. Ihr Gegenüber musste schon blind sein, um nicht zu sehen, dass sie einen Kampf auf Leben und Tod hinter sich hatte - und ganz offensichtlich als Siegerin daraus hervorgegangen war. Sie konnte erwarten, dass er erschrocken zurückzuckte. Aber das tat er nicht. Ganz im Gegenteiclass="underline" Seine Augen funkelten plötzlich spöttisch, und er machte noch einen weiteren Schritt auf sie zu.