Drakon wirkte unschlüssig, was Iceni ihrerseits davon hielt.
»Ich habe die Macht der Massen gespürt«, warf Togo ein. »Sie werden nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen. Wir müssen ihnen einen Knochen hinwerfen, aber einen, an dem noch richtiges Fleisch hängt. Oder einen synthetischen Ersatz, den sie für richtiges Fleisch halten.«
»Wir sollen ihnen Posten auf den unteren Ebenen anbieten?«, fragte Drakon.
»Und wo soll das aufhören?«, wollte Morgan wissen. »Lassen wir sie ihre Ratsmitglieder wählen, dann wollen sie auch ihre Bürgermeister wählen, und dann ihre regionalen Regierungsvertreter, ihre Generäle und schließlich ihren Präsidenten! Wollen wir wirklich zulassen, dass die Bürger in die alten Akten sehen und erfahren, was wir in der Vergangenheit alles angerichtet haben?«
»Wir können nicht ausschließlich auf Gewalt setzen, um die Massen zu kontrollieren …«, setzte Malin zum Widerspruch an.
»Ich schon! Autorisieren Sie mich und geben Sie mir die Truppen, dann werde ich die Straßen räumen und noch vor Sonnenaufgang jeden Bürger dazu bringen, dass er sich sogar bei mir dafür bedankt, so behandelt worden zu sein.«
Nach einer langen Pause, während der Iceni sich zwingen musste, Morgan nicht anzustarren, sagte General Drakon: »Das wäre natürlich eine Möglichkeit, aber sie ist mit vielen Nachteilen verbunden. Unter anderem können wir unsere Truppen für nichts anderes mehr einsetzen, wenn sie alle damit beschäftigt sind, die Bürger zu bewachen.«
Im Gegensatz zu anderen Argumenten drang dieses offenbar zu Colonel Morgan durch. »Das stimmt. Aber wir könnten in die gleiche Lage gedrängt werden, wenn den Bürgern zu viele Freiheiten gelassen werden und sie zu der Ansicht gelangen, dass sie nicht zu tun brauchen, was man ihnen sagt.«
»Ja, das ist ein Problem. Wie können wir ihnen etwas geben, damit sie zufrieden sind, ohne Gefahr zu laufen, dass sie gleich darauf glauben, sie könnten noch weitere Forderungen an uns stellen?«
»Wir können nicht jeden Bürger zufriedenstellen«, antwortete Malin. »Einige von ihnen werden morgen früh verlangen, dass sofort die totale Demokratie Einzug hält. Wir können auf die Schwierigkeiten hinweisen, die so etwas nach sich ziehen würde, und ihnen zugleich gerade genügend Veränderungen anbieten, mit der die große Mehrheit zufrieden sein wird.«
»Gerade genügend Veränderungen?«, fragte Togo.
»Und wie legen wir fest, was ›gerade genügend‹ ist?«, wollte Morgan wissen. »Geben wir ihnen ihrer Meinung nach zu wenig, werden sie mehr verlangen. Geben wir ihnen mehr, werden sie noch mehr haben wollen.«
So blutrünstig Morgan auch sein mochte, brachte sie doch einige gute Argumente vor. Iceni sah zu Togo. »General Drakon hat das Argument der Sicherheit bereits ins Spiel gebracht. Die Leute sollen auf ihr Zuhause und ihre Kinder achten, dass nichts passiert. Was können wir noch nehmen, um das Verlangen der Bürger nach mehr Eigenverantwortung zu bändigen?«
Gedankenverloren sah Togo zur Decke, schließlich sagte er: »Teile und herrsche. Eine sehr alte, aber sehr wirkungsvolle Taktik. Was geschieht, wenn die Bürger darüber abstimmen können, was sie wollen? Werden die Städte alles für sich nehmen wollen, weil sie mehr Wähler haben? Wird man den Städten ihre Wünsche verweigern, weil Machtblöcke anderer Wähler die Kontrolle über mehr Positionen erlangen, als ihnen eigentlich zustehen würden? Veränderungen müssen behutsam erfolgen, damit man sicherstellen kann, dass niemand ernsthaft benachteiligt wird. Indem wir die höheren Positionen mit Leuten besetzen, die von Präsidentin Iceni bestimmt werden, sofern General Drakons Ratschläge berücksichtigt wurden und seine Zustimmung eingeholt wurde, können wir sicherstellen, dass die Interessen aller Gruppen geschützt sind. Immerhin werden die Leute dem Urteil von Präsidentin Iceni und General Drakon vertrauen, weil die beiden Midway von den Schlangen befreit haben.«
Drakon setzte ein schiefes Grinsen auf. »Verdammt noch mal, fast hätte ich Ihnen abgenommen, dass das Ihr Ernst ist.«
»Die beste Propaganda enthält immer ein Körnchen Wahrheit, das Halt bietet und die Illusion erzeugt, dass die auf diesem Körnchen basierenden Argumente legitim sind.«
Diesmal war sogar Morgan beeindruckt.
»Allerdings«, fügte Drakon an, »möchte ich eine gerechte Verteilung bei der Benennung der Kandidaten. Präsidentin Iceni nominiert eine Hälfte, bei der ich berate und zustimme, ich nominiere die andere Hälfte, dabei gibt sie mir Ratschläge und stimmt meinen Vorschlägen zu.«
»Gerecht verteilt«, fand Iceni.
»Der Wahlprozess für die unteren Ebenen wird einiges an Vorbereitungen erfordern«, fuhr Togo fort. »Die Software muss als zuverlässig bestätigt werden, damit gewährleistet ist, dass tatsächlich die Stimmen gezählt werden und nicht bloß ein gewünschtes Ergebnis erzielt wird. Es muss verhindert werden, dass irgendwelche Hintertüren geöffnet werden können, damit es nicht zu Manipulationen kommen kann. Ausgenommen natürlich solche Hintertüren, die von Präsidentin Iceni und General Drakon ausdrücklich gewünscht sind. Kandidaten müssen gesucht und Wahlkampagnen in Gang gesetzt werden. So etwas darf man nicht überstürzen, weil man sonst Gefahr läuft, einzelnen Kandidaten die Teilnahme an der Wahl zu versagen, nur weil sie nicht schnell genug waren. Das alles wird ein langwieriger Prozess werden.«
Iceni nickte und fragte sich zugleich, warum sie von einem Gefühl der Unzufriedenheit erfasst wurde. Ist das denn nicht die Lösung, die ich haben wollte? Eigentlich doch. Aber das Syndikat-System hat Schiffbruch erlitten, und es könnte sein, dass dies hier nur ein Versuch ist, genau das beizubehalten, oder nicht?
Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Togos Lösung wird mir diese Zeit geben.
Sie schaute zu Drakon. Spiegelte sich in seinen Augen die gleiche Unzufriedenheit wider? Oder bildete sie sich das nur ein? »Dann an die Arbeit«, sagte sie schließlich. Niemand widersprach ihr.
Als er in sein Hauptquartier zurückkehrte, konnte Drakon sich zum ersten Mal seit langer Zeit richtig entspannen. Hinter ihm lag ein harter Tag, aber er hatte es geschafft. Er und Iceni hatten es geschafft.
Und er hatte etwas mehr über sie in Erfahrung gebracht. Sofern Iceni keine besonders begabte Schauspielerin war, hatten die Verluste bei den mobilen Streitkräften sie wirklich erschüttert. Das war ermutigend, denn Anführer, die menschliche Verluste als Preis des Kriegs abschrieben, waren nach Drakons Erfahrung auch dazu fähig, Verbündete auf die gleiche Weise abzuschreiben.
Er war sich noch nicht im Klaren, ob er später noch einmal Kontakt aufnehmen sollte, um unter vier Augen mit ihr über jene vier Schlangen-Wachposten und deren Familien zu reden, die neue Identitäten und andere Wohnungen erhielten. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass Iceni deren Tod fordern würde, aber so genau ließ sich das nicht sagen. Die Alternative war, sie in den gleichen Transporter zu setzen, mit dem die anderen Familien von hier weggebracht werden sollten. Aber wie sollten diese vier Schlangen erklären, dass sie noch lebten, während all ihre Kameraden tot waren? Nein, damit würde er sein eigenes Versprechen hintergehen. Ohne deren Hilfe hätte er es nie bis zum Hauptüberwachungsknotenpunkt geschafft. Er war ihnen etwas schuldig.
Was bedeutete, dass er auch Iceni etwas schuldig war, aber es war wohl besser, das nicht so deutlich auszusprechen. Immerhin konnte sie ja auf den Gedanken kommen, dieses Geständnis zu nutzen, um ihn von ihr abhängig zu machen.
Malins Komm-Einheit summte ungeduldig. Malin nahm die Mitteilung entgegen und wurde bleich, als er den Text las. »General.«
»Was ist?«, fragte Drakon und ahnte bereits, dass er sich die längste Zeit hatte entspannen können.