Auch Morgans Gruppe hatte die Einrichtung erreicht und sich über andere Abschnitte der Einrichtung verteilt. Sie waren wie Phantome, die sich behutsam ihren Zielen näherten. Einer der Sektionsführer bewegte sich an einer Sicherheitskamera vorbei, die auf diesen Teil der Außenhülle gerichtet war. Die Linse vollzog ihren Schwenk weiter; sie hatte den Unsichtbaren einfach nicht wahrgenommen.
Die Sektionsführer hatten Zugänge erreicht, durch die sie sich an verschiedenen Stellen der Einrichtung Zutritt verschaffen konnten. In einigen Fällen handelte es sich um Luftschleusen, die von Wartungstechnikern benutzt wurden, wenn es etwas zu reparieren gab, andere waren Schächte und Tunnel, die nie mit der Absicht gebaut worden waren, dass sich Menschen durch sie hindurchbewegten. Zum Teil wurden diese Zugänge von den an Bord befindlichen Leuten von innen für ihre Kameraden geöffnet, zum Teil kamen aber auch kleine, komplexe Apparate zum Einsatz, die immer noch die Bezeichnung »Generalschlüssel« trugen, abgeleitet von einem alten Objekt, einem Schlüssel, mit dem man alle möglichen Türen in einem Gebäude aufschließen konnte. Hier sorgten sie dafür, dass Zugangscodes geknackt und Sicherungsbolzen in Bewegung gesetzt wurden, bis sich scheinbar unüberwindliche Barrieren einfach öffneten.
Die Männer rückten vor, einer gab dem anderen mit feuerbereiten Waffen Deckung, während sie ins Innere vordrangen. Einige gelangten dabei in hell erleuchtete Korridore, andere in düstere Räume, in denen sich Kanister und Kisten stapelten und in denen hin und wieder ein Robotdiener unterwegs war, der keine Notiz von ihnen nahm, da er nur eine bestimmte Aufgabe verfolgte.
Bislang war alles so lautlos verlaufen, dass es fast schon surreal wirkte, wenn die Phantomgestalten, die auf den Helmdisplays ihrer Kameraden kaum auszumachen waren, wortlos Schritt für Schritt den Plan befolgten, den sie auswendig gelernt und in die taktischen Systeme ihrer Anzüge überspielt hatten. Aber die Männer in den Korridoren konnten nun die Geräuschkulisse menschlicher Aktivitäten hören, wohingegen diejenigen, die sich in den Wartungs- und Lagerbereichen aufhielten, nur dumpfes Stampfen und Schlagen wahrnahmen, das sich in der Struktur der Einrichtung ausbreitete.
Eine Supervisorin, die in ihre persönliche Nachrichteneinheit vertieft war, kam um eine Ecke und passierte eine Gruppe in Tarnanzügen, die ihr schnell Platz machte. Nachdem sie ein paar Meter weitergegangen war, blieb sie stehen, hob ein wenig irritiert den Kopf, konzentrierte sich dann aber wieder auf das Pad in ihrer Hand und ging weiter.
Drakon, der diesen Vorgang beobachtet hatte, wurde dabei an jene sonderbare Erregung erinnert, die damit einherging, wenn man einen Tarnanzug trug, und die man gut unter Kontrolle halten musste, weil man sonst übermütig wurde und etwas machte, wodurch man sich verriet. Man musste nur jemanden anrempeln oder angerempelt werden. Oder ein falscher Schritt verursachte ein zu lautes Geräusch oder auch nur starke Schwingungen. Es genügte sogar der Lufthauch, den man beim Gehen erzeugte, um die uralten Instinkte anderer Menschen in Alarmbereitschaft zu versetzen. Das defensive Training für Wachposten legte ganz besonderen Wert auf solche fast unterbewussten Wahrnehmungen. Wenn man einen Luftzug spürt, wo es keinen Luftzug geben durfte, dann war das möglicherweise das Letzte, was man spürte. Und wenn Wachposten oder andere Personen in einer Einrichtung wie dieser erst einmal aufmerksam geworden waren, konnten sehr schnell Abwehrmaßnahmen eingeleitet werden, bei denen Nebelschwaden in Gänge und Räume gepumpt wurden, damit man die Umrisse selbst jener Personen aufspüren konnte, die den leistungsfähigsten Tarnanzug trugen.
Aber diese Männer besaßen Erfahrung und gingen behutsam vor, wobei die Leute, denen sie begegneten, nicht den Eindruck erweckten, sich über einen bevorstehenden Angriff zu sorgen. Hatte Colonel Dun ihnen überhaupt gesagt, was sie vorhatte? Vermutlich nicht. Viele Sub-CEOs und CEOs folgten gern der Philosophie, dass es für alle einfacher war, wenn sie ihren Untergebenen keine Details nannten. Wenn man erst mal anfängt, etwas zu erklären, hatte einer von ihnen einmal mahnend zu Drakon gesagt, nachdem der bei einer Einsatzbesprechung mit seinen Leuten erwischt worden war, dann erwarten sie für alles andere, was sie tun sollen, ebenfalls Erklärungen, anstatt es einfach zu tun.
Sein Blick zuckte von einem virtuellen Fenster zum nächsten. Er sah, wie seine Leute in einem Dutzend verschiedener Bereiche der Einrichtung weiter vorrückten. Eine Gruppe hatte bereits das primäre Frachtkontrollzentrum erreicht und schwärmte aus, um die Positionen einzunehmen, von denen aus sie sofort jedes Transportsystem abschalten konnten. Ein anderer Trupp hielt sich in einem Raum mit Reservekontrollen und -schaltkreisen auf, die komplett automatisiert waren und es damit erlaubten, dass dort Software eingespeist werden konnte, die alle möglichen Funktionen blockierte, ohne dabei die Softwarewachposten zu alarmieren.
Als Morgan langsam um eine Ecke ging, zeigte das Bild ihres Anzugs einen kurzen Gang, in dem ein sichtlich gelangweilter Wachposten vor einer Zugangsklappe stand. An einem Arm trug der Mann eine metabolische Schelle, die so eingerichtet war, dass automatisch ein Alarm einsetzte, wenn die Schelle ohne die entsprechenden Codes entfernt wurde oder wenn der Metabolismus des Wachmanns deutliche Anzeichen für Stress erkennen ließ. Drakon hatte nie den Wachposten in seiner Einheit vergessen, der sich für die Nachtschicht mit einer Frau verabredet hatte, ohne daran zu denken, dass der durch Sex in Schwung geratende Metabolismus den Alarm auslösen würde. Der Mann hatte den Vorfall ganz sicher auch nicht vergessen, zumal er froh sein konnte, dass man ihn nicht am nächsten Tag hingerichtet hatte.
Die Gruppe, von der Morgan begleitet wurde, folgte ihr, als sie sich mit schnellen Schritten dem Wachposten näherte. Dem blieb gerade noch Zeit, sich verwundert umzusehen, dann rammte ihm einer der Kommandosoldaten auch schon einen Blocker in den Arm. Der Körper des Mannes begann zu zucken, die bewusste Muskelkontrolle wurde ihm jäh entrissen, nur autonome Körperfunktionen wie die Atmung und der Herzschlag blieben davon unberührt. Die Schelle löste keinen Alarm aus, als man den Wachmann vorsichtig auf den Boden legte. Damit waren die Kommandosoldaten auch schon in den gesicherten Bereich vorgedrungen, in dem sich die Kommandozentrale und Colonel Duns Büro befanden.
Der größte Teil von Malins Einheiten war in Position, und den Rest führte er in aller Eile zum rückwärtigen Abschnitt des gesicherten Bereichs, um zu verhindern, dass irgendwem die Flucht gelang. Morgans Soldaten verteilten sich zügig überall in diesem Bereich, dabei gingen immer wieder Wachleute zu Boden, ehe die überhaupt begriffen, dass ihnen Gefahr drohte. Die Glücklichen unter ihnen waren die, die metabolische Schellen trugen, da sie hilflos, aber lebend zurückgelassen wurden. Die Übrigen starben einen schnellen und lautlosen Tod.
Drakon warf einen Blick auf die Stressanzeigen, die ihn erkennen ließen, wie sehr den Kommandosoldaten die Anstrengungen der schnellen Bewegungen, die langwierige Annäherung und die unnatürlich gleitende Gangart zu schaffen machten, die notwendig war, um in getarntem Zustand möglichst geräuschlose Schritte zu machen. Das alles war für jeden sehr kräftezehrend, selbst für jemanden, der so durchtrainiert und ausdauernd war wie diese Kommandosoldaten.
Aber alles verlief genau nach Plan.
Bis zu dem Augenblick, als einer der Tarnanzüge versagte.
Für die Arbeiter, die im Transportkontrollzentrum die Anzeigen der Geräte beobachteten, sah es so aus, als würde ein Soldat in leichter Gefechtsausrüstung aus dem Nichts mitten zwischen ihnen auftauchen. Der Anblick ließ die Intelligenteren in der Gruppe auf der Stelle so sehr erstarren, dass man ihnen nicht mal ansehen konnte, ob sie überhaupt noch atmeten. Es war ein Urinstinkt, der ihnen sagte, dass völlige Reglosigkeit die einzige Lösung war, um dem Angriff dieses Jägers zu entgehen.