Nach ein paar Sekunden beschrieb Drakon eine wütende Geste. »Ich werde Ihnen wohl glauben müssen. Ansonsten müsste ich Sie erschießen lassen. Aber in dem Fall bevorzuge ich es, Ihnen zu glauben. Die offizielle Version der Ereignisse besagt ab sofort, dass Sie geschossen haben, um Morgan das Leben zu retten, auch wenn das niemand glauben wird, der Sie beide kennt. Aber wenn so was noch mal vorkommt, dann ist es mir egal, ob Morgan getroffen wird oder nicht. Ist das klar? Dann sind Sie erledigt.«
Malin machte einen etwas verwunderten Eindruck. »Sie … lassen mich weiter in Ihrem Stab mitarbeiten?«
»Sie und Morgan, ganz richtig. Sie kommt damit klar. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, war sie beeindruckt davon, dass Sie persönlich versucht haben, sie bei der einen Gelegenheit abzuschießen, die es Ihnen erlaubt hätte, ungeschoren mit einem Mord davonzukommen. Das ist etwas, was Morgan bei anderen Menschen bewundern kann. Sie wird Ihnen trotzdem auch weiterhin nicht den Rücken zudrehen, allerdings scheint sie jetzt zu glauben, dass Sie es wert sind, getötet zu werden.«
Der Mann atmete tief durch, dann nickte er. »Ich schätze, ich sollte ab sofort sehr vorsichtig sein.«
»Ja, das wäre wohl das Beste, auch wenn ich Morgan gesagt habe, dass ich Sie beide brauche. Und das sage ich Ihnen jetzt auch. Wenn einer von Ihnen den anderen umbringt, wird sich der Überlebende noch wünschen, es hätte stattdessen ihn erwischt. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt, Colonel Malin?«
»Ja, Sir.«
Iceni saß in ihrem Büro und fragte sich eben, wieso sie noch nichts von Drakon gehört hatte, da meldete er sich bei ihr. Das virtuelle Bild ihres Mitherrschers tauchte in sitzender Haltung auf der anderen Seite ihres Schreibtischs auf. »Die Orbitaleinrichtung ist vollständig gesichert«, berichtete er. »Wir haben die Station bis auf die Ebene ihrer Quarks durchsucht und bis auf Colonel Duns Überraschungen nichts Außergewöhnliches finden können, was dort nicht hingehört, wenn man von der üblichen Schmuggelware, von Pornografie und Erholungsdrogen absieht. Die schlechte Nachricht ist die, dass sich Colonel Dun als Mitarbeiterin des ISD entpuppt hat.«
»Dun? Eine ISD-Agentin?«, wiederholte Iceni und täuschte Erstaunen vor. Drakon musste nicht wissen, dass sie das schon von ihrer Quelle in seiner unmittelbaren Nähe erfahren hatte.
»Es besteht kein Zweifel daran. Dun besaß ein kleines zweites Büro, das an ihr Schlafzimmer angrenzend versteckt war. Nur die Schlangen können so etwas dort eingerichtet haben, ohne dass jemand etwas davon mitbekommen hat.«
»Und trotzdem hat zuvor nichts darauf hingedeutet, dass Dun für den ISD tätig war?«
Drakon schüttelte den Kopf. »Nein. Die Schlangen haben uns sogar dahingehend getäuscht, dass sie uns Hinweise zuspielten, wonach sie hin und wieder als Informantin für sie arbeitete. Viele Leute waren solche Gelegenheitsinformanten, weil sich nur wenige Bürger gegen ein derartiges Ansinnen sträuben konnten, wenn sie von den Schlangen gefragt wurden. Dun steckte ganz tief mit drin. Sie muss schon vor Jahrzehnten rekrutiert worden sein, was mir ehrlich gesagt Sorgen bereitet. Wenn Dun nicht aufgefallen ist – wie viele Agenten ihrer Art tummeln sich dann immer noch in diesem Sternensystem?«
»Eine der wirkungsvollsten Waffen des ISD bestand darin, Misstrauen zu säen«, bemerkte Iceni. »Zugegeben, wir selbst haben das nicht viel anders gehandhabt. Also müssen wir auf unsere Liste der Unwägbarkeiten auch noch mögliche verbliebene Agenten des ISD setzen. Danke, General Drakon. Gibt es sonst noch etwas?«
»Nein, jedenfalls nicht im Augenblick.«
Nachdem Drakons Bild verschwunden war, drehte Iceni sich zu Togo um, der so weit seitlich von ihr gestanden hatte, dass er für den General nicht sichtbar war. »Was hat er mir nicht gesagt?«
Togo warf einen Blick auf seinen Reader. »Unmittelbar bevor General Drakons Leute in Colonel Duns Quartier eindrangen, schickte sie noch eine Impulsübertragung an die C-625. Der Kreuzer müsste die Nachricht eine halbe Stunde vor Erreichen des Hypernet-Portals empfangen haben.«
»Kennen wir den Inhalt dieser Nachricht?«
»Nein«, antwortete Togo. »Colonel Duns Ausrüstung löschte sich von selbst, ehe die Selbstzerstörung erfolgte. Ich konnte bislang nicht feststellen, ob General Drakons Leute irgendeinen Teil dieser Nachricht aufgefangen haben.«
»Verstehe. Sonst noch was?«
»Es kursieren Gerüchte, wonach General Drakons engster Adjutant Colonel Malin während des Angriffs auf die Einrichtung versucht haben soll, die zweite Adjutantin Colonel Morgan zu töten. Ich glaube, das hat sich tatsächlich zugetragen, zumindest aber etwas, das sich als ein Mordversuch an Morgan durch Malin auslegen lässt.«
»Sehr interessant.« Iceni war der Ansicht gewesen, Drakon hätte solche Dinge im Griff. »So wie ich die beiden erlebt habe, wäre ich eher davon ausgegangen, dass Morgan versuchen würde, Malin zu ermorden, nicht umgekehrt.« Sie trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und verzog nachdenklich das Gesicht. »Befassen Sie sich noch mal mit Colonel Morgan. Finden Sie alles heraus, was es über sie gibt. Immerhin können wir jetzt auf die Akten zugreifen, die die Schlangen angelegt hatten. Ich muss mehr über sie erfahren.«
»Soweit wir das sagen können, schläft sie nicht mit General Drakon.«
Dafür erhielt Drakon in Sachen gesunder Menschenverstand ein paar Pluspunkte … und wohl auch in Sachen Moral. In der Theorie war es von Vorgesetzten in den Syndikatwelten erwartet worden, keine intimen Beziehungen mit Untergebenen zu pflegen, weil es auf diese Weise viel zu leicht zu einem Machtmissbrauch kommen konnte. Aber in der Praxis war so etwas an der Tagesordnung, und so gut wie jeder CEO verschloss vor dem die Augen, was andere trieben, weil er niemandem einen Grund liefern wollte, dass irgendwer seine eigenen Regelverletzungen zu genau unter die Lupe nahm. »Einer der Gründe, wieso ich Drakon so sehr vertraut habe, dass ich mit ihm gemeinsame Sache machen konnte, war die Tatsache, dass er mit niemandem schläft, der für ihn arbeitet. Aber Morgan ist attraktiv genug, um sich einen CEO zu angeln, der mächtiger ist als Drakon, erst recht nachdem man ihn hierher ins Exil geschickt hatte. Sie hat beschlossen, mit ihm herzukommen. Mein Instinkt sagt mir, dass Morgan ein geschickteres Spiel verfolgt, anstatt sich einfach nur nach oben zu schlafen.«
»Viele glauben, dass früher einige ihrer Rivalen spurlos verschwunden sein sollen«, ergänzte Togo.
»Gut. Suchen Sie in allen Akten, überprüfen Sie jede Quelle, finden Sie heraus, was Sie nur können. Ich muss wissen, wozu sie fähig sein könnte.«
»Und Colonel Malin?«
»Über ihn auch.« Sie hielt nachdenklich inne. »Mein Eindruck von Malin ist der, dass er behutsam und beherrscht vorgeht und dass er die Denkweise der Syndikatwelten hinter sich lassen will. Aber wenn er versucht hat, Colonel Morgan im Rahmen einer militärischen Aktion zu töten, dann dürfte das eine hastige, impulsive Handlung gewesen sein, die ganz der Art des Syndikats entspricht. Versuchen Sie herauszufinden, was sich hinter Malin wirklich verbirgt.«
Nachdem Togo gegangen war, betrachtete Iceni die Dokumente auf ihrem Bildschirm, ohne sie jedoch zu lesen. Warum hat Drakon nichts von der Nachricht gesagt, die Dun noch gesendet hat? Und was mag sie enthalten haben? Meine Quelle sagt mir, dass Drakons Leute nicht in der Lage waren, irgendwelche Informationen aus Duns Ausrüstung herauszuholen. Dass Drakon mir nichts von den internen Problemen mit seinem Stab gesagt hat, ist ein anderes Thema, und das kann ich auch gut verstehen. Kein CEO gibt so etwas jemals zu, selbst wenn der Konferenzraum mit toten Executives übersät ist und die Überlebenden in aller Eile versuchen, sich das Blut von den Händen zu waschen. Ich finde nur, dass das eine ziemlich nachlässige Art ist, Dinge zu erledigen. Niemand außer dem obersten Boss sollte entscheiden, wer die Axt in die Hand gedrückt bekommt.