Als die Präsidentin die Luke zu ihrem Quartier hinter sich schloss, kam ihr das wie eine Atempause vor, was damit zusammenhing, dass sie sich hinter einer verschließbaren Barriere befand. Wie lange war es her, dass sie sich unter Menschen hatte begeben können, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, wer hinter ihr stand?
Bei Marphissa hatte sie ein besseres Gefühl. Die Frau ließ alle Anzeichen dafür erkennen, dass sie klug, fähig und loyal war und dass sie keine Probleme damit hatte, die Wahrheit auszusprechen. Letzteres war von CEOs und Sub-CEOs regelmäßig als Ärgernis angesehen worden, doch Iceni wusste, wie wertvoll eine solche Eigenschaft bei einem Untergebenen war. Vorausgesetzt natürlich, alles andere traf tatsächlich auf Marphissa zu, insbesondere die Loyalität.
Haben sich diese Menschen wirklich auf meine Seite gestellt, weil sie glaubten, dass es mir wichtig ist, was aus ihnen wird? Obwohl … ich schätze, das trifft sogar zu, zumindest in dem Maß, dass ich sie nicht einfach den Enigmas überlassen habe, als die Situation aussichtslos erschien. Aber das gehörte zu meiner Verantwortung als CEO über ein Sternensystem. So gehe ich nun einmal vor. Ich erledige meine Arbeit richtig, und es wäre einfach nur dumm von mir, mich nicht für diejenigen zu interessieren, von deren Leistung in einem Gefecht mein Leben abhängt.
Sie legte sich auf ihr Bett und starrte zur Decke, während sie sich fragte, wieso es so gut tat, an die fröhliche Stimmung der Brückencrew zu denken. Die Meinungen dieser Leute zählten nicht, so hatte man es ihr ein Leben lang weisgemacht.
Aber sie hatte sich gegen das aufgelehnt, was man ihr eingetrichtert hatte.
Sie hatte sich dagegen aufgelehnt, weil das System gescheitert war.
»CEO Janusa.« Der Mann, der die Nachricht an sie geschickt hatte, wirkte freundlich, aber auch ein wenig verhalten. Iceni hatte ihn noch nie gesehen. »Ich bin CEO Reynard. Willkommen in Kane. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Sieg im Midway-Sternensystem und würde es begrüßen, wenn Sie mir die Details des dortigen Kampfs übermitteln würden, damit ich daraus lernen kann.«
Er ist kein CEO. Er redet wie ein Sub-CEO und versucht mir zu schmeicheln, um mir auf dem Weg Informationen zu entlocken. Interessant.
Nun nahm die Miene von »CEO Reynard« einen besorgten Ausdruck an. »Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen jedoch mitteilen, dass sämtliche Vorräte der Einrichtung der mobilen Streitkräfte im Orbit um den vierten Planeten von einer anderen Flotte des Syndikats an Bord übernommen wurden, die kurz vor Ihnen unser System aufgesucht hat. Wenn Sie stattdessen Kurs auf den zweiten Planeten nehmen, werde ich veranlassen, dass Ihre Flotte dort alles Notwendige erhält. Auf diese Weise können Sie die Vorräte erheblich schneller an Bord bringen und zu Ihrem nächsten Ziel aufbrechen. Für das Volk. Reynard, Ende.«
So, so, »Reynard«. Wie lautet Ihr wahrer Name, und welches Spiel treiben Sie wirklich mit mir? Sind die Syndikatwelten hier vielleicht auch gestürzt worden? Wo ist CEO Chan, der bislang das Sagen hatte? Er könnte von den Schlangen aus dem Weg geräumt worden sein, und in dem Fall wären Sie ein Ersatzmann, der dem Syndikat treu ergeben ist und den der ISD auf diesen Posten gesetzt hat, nachdem die Schlangen die Reihen der CEOs gesäubert haben.
Er scheint uns auch schnell wieder loswerden zu wollen. Eines ist klar: »Reynard« will nicht, das wir uns zum Gasriesen begeben. Das ist ein gutes Zeichen. »Behalten Sie den Kurs auf die Einrichtung nahe dem Gasriesen bei«, befahl sie Marphissa.
Dann dachte sie in Ruhe über ihren nächsten Schritt nach und aktivierte das Komm.
»Hier ist CEO Janusa mit der Antwort an CEO Reynard. Bedauerlicherweise fehlt mir die Zeit für einen Umweg zum zweiten Planeten in diesem Sternensystem. Meine Flotte wird die Einrichtung wie geplant ansteuern. Ich bin davon überzeugt, dort noch genau das vorzufinden, was wir benötigen. Für das Volk. Janusa, Ende.«
Dann die nächste Nachricht: »Hier ist CEO Janusa mit einer Mitteilung an den Befehlshaber der Flotte nahe dem vierten Planeten in diesem Sternensystem. Ich bin auf direkten Befehl der Regierung auf Prime hier. Ich wünsche, dass sich Ihr Befehlshaber so bald wie möglich bei mir meldet. Es gibt dringende Erfordernisse, die eine Änderung Ihrer Aufgaben mit sich bringen.« Diese Erfordernisse bestehen darin, euch von dieser Einrichtung wegzulocken, damit ich freie Hand habe.
»CEO Janusa geht aber hart ran«, merkte Kommodor Marphissa an, nachdem Iceni die zweite Nachricht versendet hatte.
»Sie ist eine richtige Zicke«, stimmte Iceni ihr zu. »Auf diese Weise kommt niemand auf die Idee, daran zu zweifeln, dass sie vielleicht gar keine richtige CEO ist. Hatten Sie schon Erfolg, mit den Befehlshabern der Kriegsschiffe in der anderen Flotte inoffiziell Kontakt aufzunehmen?«
»Ich habe ihnen auf nichtautorisierten Nebenkanälen des Komm-Systems Anfragen zukommen lassen, aber bislang gab es keine Reaktionen.«
»Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie etwas hören. Ich würde diese Kriegsschiffe viel lieber zu einem Teil meiner Flotte machen, als gegen sie kämpfen zu müssen.«
Sie waren noch achtundzwanzig Stunden von der Einrichtung der mobilen Streitkräfte entfernt.
Sieben Stunden später traf die nächste Nachricht ein, sie kam von der Einrichtung nahe dem Gasriesen. »CEO Janusa, ändern Sie bitte Ihren Vektor und nehmen Sie Kurs auf den zweiten Planeten. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es nach dem Besuch der letzten Flotte zum Ausbruch einer schweren Krankheit gekommen ist. Wir müssen erst noch herausfinden, welche Maßnahmen für eine erfolgreiche Bekämpfung notwendig sind. Mehr als die Hälfte unseres Personals ist bereits krankheitsbedingt ausgefallen. Für das Volk. Kommissarischer Befehlshaber der Einrichtung, Sub-CEO Petrov, Ende.«
»Für jemanden, der versucht, eine von einer schweren Krankheit befallene Einrichtung zusammenzuhalten, sieht diese Frau aber noch sehr gesund aus«, stellte Iceni fest. »Kommodor Marphissa, ich möchte, dass Ihr Schiffsarzt das Erscheinungsbild der Frau in dieser Nachricht analysiert, die sich Sub-CEO Petrov nennt.«
Marphissa gab den Befehl weiter, dann wandte sie sich wieder Iceni zu. »Wenn die Mannschaft auf dieser Einrichtung an einer möglichen Seuche erkrankt wäre, dann hätte den Vorschriften entsprechend sofort eine Standardwarnung gesendet werden müssen, die wir beim Eintreffen im System empfangen hätten. Diese Warnung jedoch erreicht uns exakt mit der Zeitverzögerung, die entsteht, wenn vom zweiten Planeten der Befehl an die Einrichtung geschickt würde, nachdem man auf dem zweiten Planeten Ihre Antwort auf deren Bitte empfangen hat, nicht die Einrichtung anzufliegen.«
»Was für ein erstaunlicher Zufall.«
Nachdem sie kurz einer schiffsinternen Nachricht gelauscht hatte, nickte Marphissa. »Verstanden«, sagte sie. »Madam Präsidentin, der Arzt meiner Einheit sagt, dass Sub-CEO Petrov eindeutig unter Stress stand, als sie diese Nachricht abgeschickt hat, aber sie zeigt keine Anzeichen für eine Erkrankung oder Hinweise auf Langzeitstress, der über den normalen Parametern für eine Sub-CEO liegt.«
Iceni beobachtete die allmählichen Veränderungen in den Positionen der Objekte auf ihrem Display, während sich ihre Flotte mit gleichbleibender Geschwindigkeit dem Gasriesen näherte. Planeten, Monde, Asteroiden und Kometen im System kreisten deutlich langsamer um den Stern. »Die Flotte nahe dem Gasriesen hat sich noch nicht von der Stelle gerührt. Wie lange können sie dort verharren, wenn sie uns noch abfangen wollen, bevor wir den Punkt erreicht haben, von dem aus uns ein Blick hinter den Gasriesen ermöglicht wird?«