»Schätzungsweise …«, Marphissa hielt kurz inne, »… drei Stunden, bevor wir den Gasriesen erreichen. Das hängt auch davon ab, wie weit dahinter das Schlachtschiff versteckt worden ist.«
Etwas kam Iceni nicht richtig vor, und dann wurde es ihr auch endlich bewusst. »Sie haben versucht, uns mit einer Warnung zurückzuhalten, aber die haben wir ignoriert. Sie wissen selbst, wie das läuft. Wenn die erste Ermahnung oder Drohung nicht hilft, dann steigert man sich, bis man etwas hat, das die andere Seite dazu zwingt, endlich zu reagieren. Was haben sie hier, das uns dazu veranlassen könnte, auf ihre Warnungen zu hören?«
Marphissa dachte nur einen Moment lang nach. »Das Schlachtschiff.«
»Ja, wenn sie das Schlachtschiff hervorholen und uns sagen, wir sollen uns fernhalten, dann würde sogar CEO Janusa zuhören müssen. Aber das haben sie bislang nicht getan.« Auch hatte der hiesige Flottenbefehlshaber bislang nicht auf ihre Aufforderung reagiert, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Das war ebenfalls ungewöhnlich. »Noch gar nichts von irgendeiner Einheit der Flotte?«
»Nein, Madam Präsidentin, keine Reaktion.«
Iceni stutzte. »Als ich noch den Dienstgrad einer Executive oder sogar einer Sub-CEO innehatte, wäre so ein Verhalten als sehr eigenartig angesehen worden. Wir haben immer über inoffizielle Kanäle Kontakt mit anderen Einheiten aufgenommen, um die neuesten nichtautorisierten Informationen zu erfahren, damit wir uns auf kommende Ereignisse einstellen konnten.« Nur dass niemand, der halbwegs bei Verstand war, einem Vorgesetzten gegenüber ein solches Vorgehen zugegeben hätte. Manchmal hatte sie sich ernsthaft gefragt, wie viel mehr die Syndikatwelten hätten erreichen können, wenn ihre Executives nicht so viel Zeit damit verbracht hätten, intern Fäden zu spinnen und zu ziehen. Oft schienen diese inneren Machtkämpfe wichtiger zu sein als der eigentliche Krieg.
»Tatsächlich?«, fragte Kommodor Marphissa und versuchte, Erstaunen und Unglauben vorzutäuschen. »Wenn so etwas heute noch vorkommen würde – und damit will ich nicht sagen, dass das je passiert – aber wenn es so wäre, dann würde ich wohl erwarten, dass es sich unter den momentanen Umständen ereignen würde. Aber das ist nicht der Fall.«
»Da hat jemand sogar die Hintertüren verriegelt«, sagte Iceni nachdenklich. »Haben die Schlangen möglicherweise die Besatzungen dieser Kriegsschiffe umgebracht, so wie an Bord von HuK-6336?«
»Falls ja, könnte das für sie in einem Gefecht einen erheblichen Nachteil bedeuten. Sie werden nur die Einheiten benutzen können, die sich automatisch steuern lassen, da ihnen in dem Fall die Leute für all diese Positionen fehlen dürften.« Marphissa musterte ihr Display. »Oder es hat eine Revolution gegeben, und die Besatzungen dieser Einheiten wollen sich nicht verraten, weil wir ihnen zahlenmäßig überlegen sind.«
»Alles durchaus möglich.« Iceni tippte auf eine interne Komm-Taste. »Colonel Rogero, haben Sie die Kommunikation der Bodenstreitkräfte in diesem Sternensystem überwacht?«
»Ja, Madam Präsidentin.«
Der Art seines ganzen Auftretens nach zu urteilen, wirkte Rogero sogar noch professioneller, als sie es nach Drakons Lob für seinen Untergebenen erwartet hatte. Das machte es noch rätselhafter, wieso dieser Mann sich mit einer feindlichen Offizierin eingelassen hatte. Es sei denn, diese Offizierin war etwas wirklich Außergewöhnliches. Und es ist sinnlos, Rogero darauf anzusprechen. Wenn er in sie verliebt ist, wird er davon überzeugt sein, dass es keine zweite Frau gibt, die so ist wie sie. Liebe wirkt sich einfach viel zu negativ auf die Fähigkeit aus, klar und vernünftig zu denken. »Konnten Sie irgendetwas Ungewöhnliches feststellen?«
»Nur eines: dass alle Kommunikationen völlig routinemäßig erscheinen.«
»Und das ist ungewöhnlich?«
»Es ist ungewöhnlich, da wir uns im System befinden, Madam Präsidentin. Es sollte zumindest irgendeine Art von Reaktion geben, eine Diskussion oder Spekulationen, etwas, das unsere Anwesenheit kommentiert. Aber da ist nichts.«
»Können Sie mir sagen, was das zu bedeuten hat, Colonel.«
»Nein, das ist völlig unerwartet und ungewöhnlich. Mehr kann ich derzeit dazu nicht sagen … oh, warten Sie …« Rogero drehte sich zur Seite und redete mit jemandem, dann wandte er sich wieder Iceni zu. »Meine Komm-Analytiker konnten keinen Hinweis für irgendwelche Kommunikation mit den Bodenstreitkräften finden, die darauf hindeuten könnte, dass sich solche Streitkräfte an Bord eines Schlachtschiffs in der Nähe des Gasriesen befinden. Sie würden natürlich nicht direkt mit ihnen Kontakt aufnehmen, wenn sie deren Anwesenheit vor uns geheim halten wollen. Aber es finden sich immer wieder Hinweise in anderen Kommunikationen, wenn jemand auf den Transport von Vorräten oder Personal zu sprechen kommt oder irgendeine andere Bemerkung macht, die das Geheimnis enthüllt. Wir haben nichts in dieser Art gefunden.«
»Dann werden wir es also nur mit den Besatzungsmitgliedern zu tun haben?« Das hörte sich nach guten Neuigkeiten an.
»Madam Präsidentin, es dürfte unwahrscheinlich sein, an Bord dieser mobilen Einheit auf Bodenstreitkräfte zu treffen, aber wenn dort Vipern oder andere Schlangen anwesend sind, dann werden wir das nicht vorab herausfinden. Der ISD ist sehr gut darin, in scheinbar routinemäßigen Nachrichten Informationen zu verstecken.«
Dann waren es also vielleicht doch keine so guten Nachrichten. »Ich weiß Ihre Beurteilung der Lage zu schätzen, Colonel. Wir werden den Gasriesen in zwanzig Stunden erreichen. Wie lange benötigen Ihre Soldaten, um sich an Bord der Shuttles zu begeben, wenn ich eine Erstürmung des Schlachtschiffs anordnen sollte?«
»Zwei Minuten, dann sind wir bereit.« Nach kurzem Zögern fügte er an: »Ihnen ist klar, dass unsere Shuttles nicht lange genug überleben werden, um das Schlachtschiff zu erreichen, falls ein großer Teil der Bewaffnung bereits aktiviert worden ist.«
»Ich verstehe.« Sie hätte die Chancen für die Shuttles nicht als so schlecht eingeschätzt, aber wahrscheinlich hing das in großem Maß auch davon ab, wie viele Waffen des Schlachtschiffs tatsächlich einsatzbereit waren.
Nachdem Rogero die Verbindung beendet hatte, überlegte Iceni, welche Möglichkeiten ihr noch blieben. Es gab kaum noch etwas, um den Lauf der Ereignisse zu beeinflussen, aber in ihrem Arsenal der Überraschungen steckte noch eine ganz große Sache. »Wenn wir uns dem Gasriesen nähern«, sagte sie zu Marphissa, »werde ich meine Tarnung aufgeben und ihnen sagen, wer ich bin und wofür wir stehen. Wenn sie Schlangen sind, wird sie das aus ihren Löchern hervorholen. Wenn nicht, werden sie wissen, dass sie einen Kampf vermeiden können.« Noch zwanzig Stunden bis zum Erreichen der Einrichtung und vermutlich siebzehn Stunden, ehe sich die andere Flotte in Bewegung setzen musste.
Iceni betrachtete die Darstellung ihrer eigenen Flotte auf dem Display. Die Kriegsschiffe waren in der Standardformation für mobile Streitkräfte der Syndikatwelten angeordnet: eine Kastenform mit den drei Schweren Kreuzern Seite an Seite in der Mitte, den vier Leichten Kreuzern an jeder der hinteren Ecken und den vier Jägern an den vorderen Ecken, während die übrigen drei Jäger sich unter den Schweren Kreuzern in der Mitte des Kastens aufhielten. Eine simple Anordnung, bei der sich die Feuerkraft auf die Mitte konzentrierte und die es möglich machte, die Flugrichtung zu ändern, ohne auch die Positionen jedes einzelnen Schiffs verändern zu müssen. Die Schiffe mussten einfach nur gemeinsam auf den neuen Vektor einschwenken. So war es jahrzehntelang erfolgreich gegen die Allianz eingesetzt worden, sofern man »erfolgreich« so deutete, dass die Flotten der Allianz und der Syndikatwelten einfach nur so lange aufeinander einprügelten, bis die Überlebenden einer Seite den Sieg für sich reklamieren konnten.
Und dann war Black Jack aufgetaucht, und mit einem Mal wurden große Flottenverbände einfach ausgelöscht, weil er die Allianz-Schiffe befehligte. Ich habe Aufzeichnungen seiner Schlachten gesehen. Er setzt alle möglichen Formationen ein, die wieder und wieder von allen Seiten angreifen und irgendwie immer genau den richtigen Moment abpassen, um unsere Flotten in Grund und Boden zu schießen. Was würde ich für eine Unterrichtsstunde geben, um von Black Jack gezeigt zu bekommen, wie man eine Streitmacht aus Kriegsschiffen in einem Gefecht kontrolliert. Aber was könnte ich ihm bieten, was er dafür haben möchte? Zugang zu unserem Sternensystem? Den kann ich ihm sowieso nicht verwehren. Mit seiner Flotte kann er uns einfach niederwalzen, wenn er das will.