Als Iceni stehen blieb, drehte sich Kontos zu ihr um. Die Bewegung sorgte dafür, dass er leicht schwindlig einen Schritt zur Seite machte und gegen eine Konsole stieß. Sie wartete, bis er sich gefangen hatte, dann folgte ein Salut, wobei Kontos einen Moment lang zögerte, ehe er mit der Faust seine Brust berührte. »Sub-Executive Kontos, diensthabender Befehlshaber der Ausstattungsmannschaft der B-78.«
Mit ernster Miene erwiderte sie den Salut, wobei ihr nicht entging, dass die Kontos unterstellten Manager genauso leicht schwankten wie er selbst. Die hageren Gesichter zeugten von den Entbehrungen, die sie hatten ertragen müssen. »Sind Ihre Rationen knapp geworden?«
»Wir verfügen nur über einen Teil der Notfallrationen, weil diese Einheit noch nicht als einsatzbereit gilt«, erklärte Kontos. »Wir haben die vorhandenen Rationen so eingeteilt, dass sie bis zu unserer Rettung ausreichen würden.« Dann zwang seine Schwäche ihn dazu, an einer anderen Konsole Halt zu suchen.
»Rühren Sie sich«, befahl Iceni an alle gerichtet. »Das gilt auch für Sie, Sub-Executive Kontos. Setzen Sie sich, legen Sie sich hin, tun Sie, was für Sie am besten ist. Colonel Rogero, lassen Sie den Leuten Wasser und Essen bringen. Kommodor Marphissa, steht die Verbindung noch?«
»Ja, Madam Präsidentin.«
»Rufen Sie das Shuttle zurück. Ich will, dass die Bordärztin der C-448 mit ihrer Assistentin herkommt. Die Crewmitglieder des Schlachtschiffs müssen medizinisch versorgt werden. Ich weiß nicht, welche medizinischen Vorräte sich hier an Bord befinden, also soll sie ihre Notfallausrüstung mitbringen.«
Rogero, der inzwischen endlich sein Helmvisier geöffnet hatte, kniete sich hin und half Kontos, sich gegen die Konsole gelehnt hinzusetzen. Als er sich aufrichtete und sich zu Iceni stellte, flüsterte er ihr zu: »Er hat die Truppe zusammengehalten, als alle hier im Begriff waren, langsam zu verhungern. Sie waren isoliert, eine Kommunikation mit der Außenwelt war nur möglich, wenn es ihnen gelang, die von den Schlangen eingerichteten Barrieren für kurze Zeit zu umgehen. Dennoch hat er dafür gesorgt, dass sie alle weitermachen und durchhalten. Ziemlich beeindruckend für einen Junior-Sub-Executive.«
»Glauben Sie, ich würde schlecht über ihn urteilen, weil er zusammengebrochen ist?«
»Er ist nicht in bester Verfassung«, antwortete Rogero diplomatisch.
»Ich kann erkennen, wenn jemand sich selbst bis zum Äußersten getrieben hat, Colonel Rogero, und mir ist klar, was es bedeuten muss, den Rest der Crew zusammenzuhalten, damit keiner von ihnen auf die Idee kommt, sich zu ergeben.« Mit einem Nicken deutete sie auf Kontos, der kraftlos gegen die Konsole gelehnt dasaß. »Wenn Sub-Executive Kontos bei uns bleiben möchte, ist er bei unseren mobilen Streitkräften mehr als willkommen.«
»Und ich wollte schon sagen«, entgegnete Rogero lächelnd, »wenn Sie ihn nicht haben wollen, wird General Drakon bestimmt an ihm interessiert sein.«
»Pech gehabt, ich hab’s zuerst gesagt, Colonel.«
»Sie bekommen aber doch schon das Schlachtschiff, Madam Präsidentin.«
Iceni sah ihn verdutzt an. Wer hätte gedacht, dass Rogero ein Mann mit Humor war? »Ich hörte, dass einer Ihrer Soldaten verletzt wurde.«
»Ja, aber nichts Ernstes. Die Schlangen waren so ausgerüstet, dass sie die nichtsahnenden Mitglieder einer mobilen Streitmacht hätten niedermetzeln können, aber gegen Truppen in Gefechtspanzerung konnten sie nichts ausrichten.«
»Wie unerfreulich für sie.«
»Präsidentin Iceni?«
»Ja, Kommodor?«
»Der Leichte Kreuzer CL-924 hat die erste Rettungskapsel des zerstörten Schweren Kreuzers an Bord geholt. Sie bestätigen, dass es sich um Crewmitglieder handelt, nicht um Schlangen.«
Iceni unterdrückte ihre Erleichterung, da sich gleichzeitig Misstrauen regte. »Weisen sie sich als Crewmitglieder aus oder sind sie Crewmitglieder?«
»Sie sind es, Madam Präsidentin. Ich habe ihre Bilder in der Flotte herumgereicht, und jemand auf der C-413 kennt einen von ihnen.«
»Gut.« Iceni betrachtete die erschöpften Überlebenden des Schlachtschiffs und sah, dass ein paar Soldaten eingetroffen waren, die Lebensmittelrationen mitgebracht hatten. »Schaffen Sie endlich diese Bordärztin rüber.«
Sie verbrachte einige Zeit damit, von zwei Soldaten begleitet einen Rundgang durch das Schlachtschiff zu unternehmen. Die beiden Männer folgten ihr nur für den Fall, dass sich in einem der unzähligen Quartiere oder in einem der vielen Seitengänge noch weitere Schlangen versteckt halten sollten. Die Feuerkontrollzitadelle und die Maschinenkontrollzitadelle hatten es geschafft, mit ihnen in Verbindung zu bleiben, auch wenn die Schlangen alles in ihrer Macht Stehende versucht hatten, die Kommunikation zu unterbrechen.
Das Ganze hatte etwas ungewollt Ironisches an sich, überlegte Iceni. Die Zitadellen existierten nur, weil man Angst vor einer meuternden Crew hatte und eine sichere Zuflucht zur Verfügung haben wollte, falls es Marines der Allianz einmal gelingen sollte, in ein Schiff einzudringen. Die Zitadellen dienten als Ort, an dem Offiziere und ISD-Agenten lange Zeit aushalten konnten, bis es Syndikat-Streitmächten gelänge, das Schiff zurückzuerobern. Doch die Maßnahmen, die eigentlich dem Zweck gedient hatten, die Kontrolle durch das Syndikat sicherzustellen, waren in ihr Gegenteil verkehrt worden und hatten die Schlangen davon abgehalten, eben diese Kontrolle zu erlangen. Stattdessen hatte Iceni das Schlachtschiff den Syndikatwelten abnehmen können.
»Madam Präsidentin, Colonel Rogero lässt ausrichten, dass die Crewmitglieder von der Brücke in die Krankenstation gebracht worden sind. Sie ist noch nicht komplett eingerichtet, aber es sind Betten vorhanden, und ein Teil der Ausrüstung ist einsatzbereit.«
»Bringen Sie mich hin.«
Die Krankenstation war erheblich größer, als man auf den ersten Blick hätte meinen sollen, was dadurch kam, dass Krankenzimmer und OP-Räume in regelmäßigen Abständen von Schotten unterteilt wurden. Durch diese Bauweise wurde gewährleistet, dass bei einem Schaden oder einem Druckverlust nicht gleich ein einzelner großer Bereich in Mitleidenschaft gezogen wurde, sodass sich die Verluste auf kleine Sektionen beschränken ließen, während der große Rest unversehrt blieb. So wie alle Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer war auch dieses hier so ausgelegt, dass nicht nur Verletzte der eigenen Crew versorgt werden konnten, sondern auch das Personal der kleineren Eskortschiffe, der Bodenstreitkräfte und anderer Einheiten.
In diesem Moment herrschte in den meisten der nur teilweise eingerichteten Räume gähnende Leere und damit auch Stille. Die überlebenden Mitglieder der Ausstattungsmannschaft belegten bloß ein paar Krankenzimmer, nur je ein Vertreter der Teams war in jeder Zitadelle zurückgeblieben. »Wo ist Sub-Executive Kontos?«, wollte Iceni wissen, als ihr Rogero entgegenkam.
»Er bestand darauf, auf der Brücke zu bleiben, bis seine reguläre Ablösung eintrifft. Die Ärztin hat ihn dort aufgesucht, und ich habe dafür gesorgt, dass er genug zu essen und zu trinken hat.« Rogero musterte sie fragend. »Wollen Sie ihn wirklich immer noch haben?«
»Auf jeden Fall. Wer ist das dienstälteste überlebende Crewmitglied?«
»Vermutlich er hier.« Colonel Rogero ging vor ihr her. Auf der Krankenstation wirkte er in seiner ausladenden Gefechtsrüstung noch bedrohlicher als sonst. An einem Bett blieb er stehen, darin lag ein Mann mittleren Alters in der Uniform eines Managers. »Er hat gegessen und getrunken, und dank der verabreichten Medikamente ist er so wie die anderen inzwischen weitgehend ansprechbar.«
»Ich weiß, wie ich ihn wach bekomme.« Der Mann lag flach auf dem Bett, er atmete schwer, und auch wenn seine Augen geöffnet waren, starrte er nur an die Decke und pendelte zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein hin und her. Iceni stellte sich neben das Bett. »Sie«, sagte sie und betonte das eine Wort auf eine Weise, die nur CEOs beherrschten. Der Tonfall machte daraus ein Kürzel für eine Reihe von Fragen, von denen jeder Arbeiter wusste, dass sie schnell und korrekt beantwortet werden mussten: Wer sind Sie? Wie lautet Ihre Tätigkeitsbezeichnung? Was machen Sie gerade?