»Und was hätte ich Ihrer Meinung nach tun sollen, wenn das der Fall gewesen wäre?«, fragte Iceni. Sie konnte ihre Stimme mühelos wie eine Peitsche einsetzen, um Missfallen und Missbilligung zu vermitteln, aber das tat sie jetzt nicht. Erst wollte sie herausfinden, was Marphissa ihr da zu sagen versuchte.
»Ein Prozess, Madam Präsidentin«, antwortete Marphissa.
»Ein Prozess?« Ging das schon wieder los? »Um eine Schuld festzustellen, die bereits feststeht? Welchen Sinn sollte so etwas haben? Sie hören sich an wie diese Bürger, von denen ich vor unserer Abreise erfahren hatte. Die, die glauben, dass unser Rechtssystem überarbeitet werden muss.«
Nach einer kurzen Pause fragte Marphissa: »Finden Sie, dass das Rechtssystem, das wir von den Syndikatwelten geerbt haben, überarbeitet werden sollte, Madam Präsidentin?«
»Auf den ersten Blick nicht«, erwiderte Iceni. »Es sorgt für eine schnelle und deutliche Bestrafung. Die Schuldigen entgehen ihrer Strafe nicht. Was sollte ich daran ändern wollen?«
»Der Zweck eines Rechtssystems besteht nicht darin, die Schuldigen zu bestrafen, Madam Präsidentin. Strafen lassen sich leicht austeilen. Der Sinn eines Rechtssystems ist der, die Unschuldigen zu beschützen.«
Iceni sah Marphissa verblüfft an. »Wo haben Sie denn das gelernt?«
»Die Syndikatwelten haben versucht, jedes Dokument und jedes Buch zu vernichten, das nicht ihren Vorstellungen entsprach, aber es ist nicht so einfach, jeden Gedanken zu eliminieren, den Menschen irgendwann einmal niedergeschrieben haben.«
»Die Untergrundbibliothek?« Offiziell wusste niemand von deren Existenz, aber inoffiziell hatte jeder schon mal davon gehört, und viele kannten einen Weg, wie man darauf zugreifen konnte. Es handelte sich nicht um ein einzelnes Gebäude, in dem alles untergebracht war, der ISD verglich die Untergrundbibliothek vielmehr mit einem Befall durch elektronisches Ungeziefer, das in jedem Sternensystem auftauchte, sich durch jeden Zugangsweg zwängte und sofort eine Umleitung fand, sobald ein Weg versperrt wurde. »Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie lesen. Die Bestrafung der Schuldigen ist für jedes System überlebenswichtig, damit die Menschen sich sicher fühlen können. Das muss unsere Priorität sein.«
»Die Schuldigen?«, wiederholte Marphissa und atmete auf einmal angestrengter. »Und wenn stattdessen eine unschuldige Person bestraft wird?«
Iceni schüttelte den Kopf. »Es gibt keine unschuldigen Personen. Wir sind alle in irgendeiner Weise schuldig, es ist nur eine Frage der Schwere dieser Schuld und der Schwere des Verbrechens.«
»Das wurde uns immer wieder gesagt, Madam Präsidentin. Aber was ist, wenn es eine andere Wahrheit gibt?«
»Wie können wir Abstriche bei der Sicherheit machen und gleichzeitig behaupten, wir würden das Volk beschützen?«, konterte Iceni.
»Das Volk beschützen? Madam Präsidentin, das Rechtssystem der Syndikatwelten beschützt die Mächtigen und die Wohlhabenden, und es bestraft nur die, die zu schwach sind, um sich selbst zu retten! Wenn das Ziel darin besteht, das Volk zu beschützen, warum werden dann niemals die Verbrechen bestraft, die von denen begangen werden, die uns regieren?« Marphissa stand wie erstarrt da, in ihren Augen spiegelten sich Trotz und auch eine Spur Angst wider.
Ganz gleich, wie viele so dachten, niemand sollte so etwas jemals laut aussprechen. Schon gar nicht, wenn man einen Vorgesetzten vor sich hatte. Das war eine der obersten Regeln, die jeder in den Syndikatwelten lernte, wenn er nicht seiner eigenen Gedankenlosigkeit zum Opfer fallen wollte. »Sie mutmaßen viel auf der Grundlage unserer erst kurzen dienstlichen Beziehung«, sagte Iceni in ihrem frostigsten Tonfall.
»Ich mutmaße viel auf der Grundlage dessen, was ich glaube, wer Sie sind«, erwiderte Marphissa. »Madam Präsidentin, ganz gleich, welche Motive Sie haben und wie Sie sich verhalten – was ist mit den anderen, die hochrangige Posten bekleiden? Sie mögen uns vor Ungerechtigkeit bewahren und nur die bestrafen, die es auch verdient haben. Aber was ist mit den anderen, die unser Schicksal in der Hand haben? Wer oder was bestimmt deren Handeln?«
Iceni saß da und blickte Marphissa eine Weile schweigend an, da ihr keine passende Antwort einfallen wollte. Die traditionelle Reaktion eines CEO hätte darin bestanden, Marphissa zu verhaften und dann den Schlangen zu übergeben. Falls Marphissa etwas über Iceni wusste, was die Schlangen nicht erfahren sollten, wäre die Gefangene bedauerlicherweise bei einem Unfall ums Leben gekommen, ehe die Schlangen sich ihrer bemächtigen konnten. Die Schlangen gab es nicht mehr, aber es würde sich mühelos ein Nachfolger finden lassen, der deren Rolle übernahm – wenn Iceni auf die althergebrachte Weise vorgehen wollte, und jemandem, der ihr gut gedient und sich nur von seiner loyalen Seite präsentiert hatte, so zu behandeln gedachte. Es missfiel Iceni, dass Marphissa sie treffsicher so eingeschätzt hatte, zu wissen, dass sie nicht zu derartigen Maßnahmen greifen würde. »Kommodor, Sie sollten sich wieder Ihrem Dienst widmen«, sagte sie schließlich.
»Ja, Madam Präsidentin.«
»Kommodor?«
Marphissa blieb an der Luke stehen, drehte sich zu Iceni um und nahm die Habtachtstellung ein. Es fehlte nur die Augenbinde, dann hätte sie wie jemand gewirkt, der seinem Erschießungskommando gegenüberstand.
Bis zu dem Moment, da sie zu reden begann, hatte Iceni nicht genau gewusst, was sie Marphissa hatte sagen wollen. »Ich ziehe jeden vor, der mir gegenüber seine Gedanken offen ausspricht, anstatt es hinter meinem Rücken zu tun. Ich werde über das nachdenken, was Sie gesagt haben.«
Da sie klug genug war, sich nicht weiter zu äußern, salutierte Marphissa nur und verließ das Quartier.
Nachdem sich Iceni davon überzeugt hatte, dass die Luke fest verschlossen und alle Schutzvorkehrungen aktiviert waren, lehnte sie sich auf ihrem Platz nach hinten und schloss die Augen. Glaubt diese Frau tatsächlich, ich hätte nie unter dem sogenannten Rechtssystem der Syndikatwelten gelitten? Ich kenne dessen Fehler so gut wie jeder andere.
Sie hatte nie ihren Körper verkaufen wollen, aber zweimal war sie gezwungen gewesen, sich Männern zu unterwerfen, die in der Hierarchie so weit oben standen, dass sie vor jeglicher Strafverfolgung sicher waren. Auch wenn sie noch so jung und unerfahren gewesen war, hatte sie doch genau gewusst, dass man ihr bei einer Anzeige gegen diese Männer unterstellt hätte, grundlos angesehene Offiziere des Syndikats zu diffamieren. Stattdessen hatte sie ihr Verlangen nach Vergeltung in einen zielstrebigen Aufstieg zur Macht umgewandelt, damit sie auf einen Posten gelangen konnte, der es ihr erlaubte, sich schließlich doch noch an ihnen zu rächen. Aber beide Männer waren bereits tot, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte. Einer war bei einem Industrieunfall ums Leben gekommen, der andere bei einem Gefecht gegen die Allianz gefallen.
Wie viele noch hatten das Gleiche durchmachen müssen wie sie? Doch sie hatte kein Opfer sein wollen, sondern nach einem Weg gesucht, sich zu rächen – nur dass ihr diese Rache versagt worden war.
Marphissa hatte den Tod ihres Bruders rächen können. Ein Tod, der durch die Behauptung eines Fehlverhaltens herbeigeführt worden war. Sollten nur die Stärksten einen Anspruch auf Gerechtigkeit haben? Und dabei war diese Form der Gerechtigkeit nicht einmal mehr als Vergeltung gewesen. Nichts von dem, was Marphissa getan hatte, hätte ihren Bruder zum Leben wiedererwecken können, nachdem er für ein Verbrechen hingerichtet worden war, das allein aufgrund der Anschuldigungen einer Person verfolgt worden war, die von diesen Anschuldigungen auch noch profitiert hatte.
Diente Bestrafung tatsächlich einem Zweck, wenn alle wussten, dass sie eine unkontrollierte Waffe war? Ein Instrument, das Kleinkriminelle ebenso henkte wie jeden, der bloß das Pech hatte, unter einen Verdacht zu geraten, oder der etwas besaß, das ein Mächtigerer um jeden Preis an sich reißen wollte?