Wo er auch auftauchte, überall begrüßten ihn seine Soldaten mit vorgespieltem Erstaunen, während sie an ihrer Ausrüstung arbeiteten oder sich auf dem Gebiet der Taktiken weiterbildeten oder mit virtuellen Trainingsgeräten beschäftigt waren. Drakon wusste nur zu gut, dass seine Leute sehr genau darüber Bescheid wussten, wo er sich auf dem Frachter gerade aufhielt, und dass sie sich untereinander frühzeitig warnten, sobald sie wussten, in welche Richtung er als Nächstes unterwegs war. Wenn er sich Mühe gegeben und ein paar unerwartete Richtungswechsel eingelegt hätte, wäre es ihm wahrscheinlich gelungen, ein paar Soldaten beim Glücksspiel oder bei unerlaubten Wettkämpfen ohne Waffen zu erwischen, aber das Resultat war diese Mühe nicht wert. Seine Leute wussten auch so, dass sie kurz vor einem Kampfeinsatz keine wilden Partys mehr feiern durften. Also folgte Drakon gemächlich einem leicht vorhersehbaren Weg durch das Schiff, suchte die umfunktionierten Frachträume auf und ging durch Korridore, in denen zu beiden Seiten Soldaten gegen die Wände gelehnt saßen, manche wach, manche fest eingeschlafen. Ihnen allen zeigte sich Drakon von einer ruhigen, gelassenen Seite, die nur zum Teil vorgespielt war. Sein Verhalten wurde von den Leuten in gleicher Weise erwidert, die diese Ruhe aber auch wirklich spätestens dann unter Beweis zu stellen hatten, wenn der Moment des Angriffs gekommen war.
Auf dem Rückweg zurück zu seinem Quartier, in dem er noch einige letzte Vorbereitungen treffen wollte, traf er auf den Befehlshaber der Brigade. Colonel Gaiene saß im Gang, den Rücken gegen ein Schott gedrückt, den Blick auf das gegenüberliegende Schott gerichtet, wo sich niemand hingesetzt hatte. Hätte man Colonel Gaiene mit einem Wort beschreiben müssen, wären die meisten Leute wohl auf »schneidig« oder »galant«, vielleicht auch noch auf »draufgängerisch« gekommen. Selbst jetzt, da er im Korridor saß, erweckte er den Eindruck, er könnte jeden Moment aufspringen und zum Angriff übergehen.
Das war das Bild, das er vermittelte, bis man ihm in die Augen sah, in die dunklen und ermatteten Augen eines Mannes, der aber vom mittleren Alter noch ein paar Jahre entfernt war. Als er bemerkte, dass Drakon sich ihm näherte, hob er den Kopf und sah ihn an. »Guten Tag, General.«
»Guten Tag.« In der Nähe des Kommandodecks hielten sich nur wenige andere Soldaten auf, die ihrem Brigadekommandanten so viel Freiraum und Privatsphäre ließen, wie es die gegebenen Bedingungen erlaubten. Drakon nutzte die Gelegenheit und setzte sich zu dem Mann. »Wie geht es Ihnen?«
»Ich bin nüchtern. Und allein. Leider.« Eine Soldatin ging an ihnen vorbei, und er warf ihr einen unauffälligen, aber interessierten Blick zu. »Kein Sex mit Untergebenen. Ist diese Vorschrift tatsächlich notwendig?«
»Leider ja.«
»Den meisten CEOs ist das egal. Die meisten CEOs würden jetzt längst einen Drink in der einen Hand halten und eine hübsche Untergebene im anderen Arm.«
Drakon grinste ihn an. »Ich bin aber nicht die meisten CEOs.«
»Nein, das sind Sie nicht.« Nachdenklich starrte Gaiene das Schott ihm gegenüber an. »Und ich bin klug genug, dafür dankbar zu sein.«
»Im Gefecht sind Sie genial, Con.«
»Und in der übrigen Zeit bin ich eine schreckliche Nervensäge.« Gaiene fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Dabei fiel Drakon auf, dass er an einem Finger einen Ring trug. Vor wie langer Zeit war sie schon gestorben? Seitdem hatte Gaiene versucht, sie mit jeder willigen Frau und mit jeder verfügbaren Flasche Alkohol zu vergessen. Und trotzdem trug er noch immer ihren Ring. »Ich weiß gar nicht, warum Sie mich nicht schon längst abgeschossen haben.«
»Ich habe meine Gründe.«
»Jeder andere CEO hätte mich mittlerweile in einem Arbeitslager abgeliefert«, hielt Gaiene dagegen. »Wahlweise als Bewacher oder als Insasse.«
Drakon nickte. »Was eine wahre Vergeudung wäre.«
»Eine Vergeudung. Ja, wirklich. Damit kennen wir uns ja alle aus, nicht wahr? Vernarbte Leben und geschädigte Seelen. Wir sind alle verdammt, wie Sie wissen«, fuhr der Colonel im Plauderton fort. »Überall, wo wir gekämpft haben, ist ein kleines Stück von uns selbst zurückgeblieben und von einem kleinen Stück jener Hölle ersetzt worden, die wir dort vorfanden. Inzwischen finden sich hundert winzige Stücke von uns an hundert Orten verstreut, die allesamt vom Tod heimgesucht wurden. Ich sehe diese Orte, ich sehe sie ständig vor mir. Meistens in meinen Träumen, aber manchmal auch, wenn ich wach bin.«
Gaiene konnte recht trübsinnig sein, wenn er nüchtern war, doch das hier stellte alles Dagewesene in den Schatten. »Geht es Ihnen gut?«, fragte Drakon. »Können Sie in einen weiteren Kampf ziehen?«
»Mir geht’s gut. Die Seelenklempner sagen, ich werde bald mein emotionales Gleichgewicht zurückgefunden haben. Bloß erzählen sie mir das schon seit langer Zeit. Ich werde aber weitermachen wie gewohnt«, ergänzte Gaiene, der sich mit einem Mal etwas distanziert anhörte. »Ich werde bis zu meinem letzten Tag weitermachen, und dann bekomme ich von Ihnen ein angemessenes Kriegerbegräbnis. Und dann werden Sie weitermachen.«
»Es sei denn, unser Leben endet genau am gleichen Tag.«
»O nein, General. Sie brauchen nicht vom Ende zu reden. Sie haben noch eine Zukunft.«
»Sie ebenfalls.«
Diesmal erwiderte Gaiene nichts, sondern saß nur da und starrte vor sich, wobei seine Augen eine andere Zeit und einen anderen Ort wahrnahmen.
Es gab noch genügend für Drakon zu erledigen, dennoch blieb er lange Zeit schweigend neben Gaiene sitzen, Schulter an Schulter mit dem Mann; vor sich eine ungewisse Zukunft, hinter sich eine viel zu deutlich im Gedächtnis gebliebene Vergangenheit.
»Fünf Minuten bis zum Andocken«, verkündete eine automatische Stimme überall auf dem Frachter. Der Schiffsführer hatte eine Frauenstimme mit einem ausgeprägten, fremdartigen Akzent ausgewählt, die bewirkte, dass man wegen der Fremdartigkeit sofort aufmerksam wurde, sich aber gleichzeitig darüber ärgerte, dass manche Worte extrem schwierig zu verstehen waren.
»Wahrscheinlich hat der Eigentümer seine Geliebte diese Texte sprechen lassen«, merkte Gaiene an. Er und die Soldaten trugen jetzt ihre Gefechtsrüstung und warteten nur darauf, dass der Andockvorgang abgeschlossen war.
»Eine andere Erklärung will mir auch nicht einfallen«, erwiderte Drakon. Seine Rüstung war mit den Systemen des Frachters verbunden worden, sodass er den Anflug unmittelbar mitverfolgen konnte. Auf dem Bildschirm hoben sich die Konturen des strahlend weißen Docks von der Schwärze des Alls deutlich ab. »Kein Hinweis auf besonder- Augenblick mal. Das sieht nach einem gepanzerten Trupp lokaler Soldaten aus.«
Colonel Gaiene seufzte missmutig auf. »Dann müssen wir ja Munition vergeuden.«
»Nicht zwangsläufig. Die machen nicht den Eindruck, als warteten sie auf uns.« Die Soldaten im Dock gingen unbekümmert hin und her, wobei ihre Silhouetten vor dem grellen Weiß der Dockwände gut zu erkennen waren. Würden sie mit Ärger rechnen, hätten sie sich wohl eher im Schatten aufgehalten. Zudem gingen sie sehr lässig mit ihren Waffen um, die sie entweder über die Schulter gelegt oder mit der Mündung nach unten an eine Wand gelehnt hatten. Ähnliche Sorglosigkeit hatte Drakon schon anderswo erlebt, wenn er Einheiten befehligte, die die gleiche Einstellung hatten wie diese Soldaten hier. Allerdings waren sie bei ihm mit einem derartigen Verhalten nicht weit gekommen. »Es sieht mehr so aus, als wenn sie schon viel zu lange in Alarmbereitschaft sind und sich inzwischen langweilen. Wahrscheinlich spulen sie immer das gleiche Programm ab, wenn ein Schiff eintrifft.«