Lolla-Wossiky erzählte niemandem, was er hörte.
Lolla-Wossiky erzählte niemandem jemals die Wahrheit. Sie glaubten ihm ohnehin nicht. Du bist betrunken, Lolla-Wossiky. Schäm dich, Lolla-Wossiky. Und Ta-Kumsaw, der dastand und nie etwas sagte, oder wenn er es doch tat, so kraftvoll war und so sehr im Recht, wo Lolla-Wossiky doch so schwach war und so sehr im Unrecht.
Nach Norden ging Lolla-Wossiky, immer weiter nach Norden. Tausend Schritte nach Norden, bevor ich eine Kleinigkeit trinke. Nach Norden, während das schwarze Geräusch so laut ist, daß ich schon gar nicht mehr weiß, wo Norden ist, aber dennoch nach Norden, weil ich nicht wage stehenzubleiben.
Tiefdunkle Nacht. Das schwarze Geräusch so schlimm, daß das Land mit Lolla-Wossiky nicht spricht. Sogar das weiße Licht des Traumtiers ist weit entfernt und schein von überallher gleichzeitig zu kommen. Das eine Auge sieht die Nacht, das andere sieht schwarzes Geräusch. Muß stehenbleiben. Muß stehenbleiben.
Ganz vorsichtig fand Lolla-Wossiky einen Baum, setzte das Faß ab, nahm Platz und lehnte sich gegen den Baum, das Faß zwischen den Beinen. Ganz langsam, weil er nichts sehen konnte, befühlte er das ganze Faß, bis er den Spund gefunden hatte. Klopf, klopf, klopf mit dem Tommy-hawk, klopf, klopf, klopf, bis der Spundzapfen locker war. Bedächtig zupfte er ihn mit den Fingern hervor. Dann beugte er sich vor und legte den Mund über das Spundloch, eng wie ein Kuß, so eng wie ein Säugling am Nippel der Brust; und dann hoch mit dem Faß, ganz langsam, ganz langsam, nicht sehr hoch, da ist schon der Geschmack, der Branntwein, ein Schluck, zwei Schlucke, drei Schlucke, vier.
Nur vier. Vier ist das Ende. Vier ist die wahre Zahl, die ganze Zahl, die quadratische Zahl. Vier Schlucke.
Er schob den Spund wieder ins Loch und klopfte ihn ganz fest. Schon steigt ihm der Branntwein zu Kopf. Schon verstummt das schwarze Geräusch.
Es wird still. Eine wunderschöne, grüne Stille.
Doch das Grün verschwindet ebenfalls, zusammen mit dem Schwarz. Jedesmal geht das so. Das Landgespür, die grüne Vision, die jeder Rote hat, niemand hat sie jemals klarer gesehen als Lolla-Wossiky. Doch nun folgt ihr jedesmal, wenn sie kommt, sofort das schwarze Geräusch. Und wenn das schwarze Geräusch verstummt, wenn der Branntwein vertreibt, folgt darauf jedesmal das Verblassen des grünen, lebendigen Schweigens.
Dann bleibt Lolla-Wossiky zurück wie ein Weißer. Vom Land abgeschnitten. Mit krachendem Unterholz unter seinen Füßen. Mit abknickenden Ästen. Mit Stolperwurzeln. Mit Tieren, die davonlaufen.
Lolla-Wossiky hoffte, hoffte jahrelang, genau die richtige Menge Branntwein ausfindig zu machen, die das schwarze Geräusch ertränkte und die grüne Vision dennoch aufrechterhielt. Vier Schlucke, näher war er der Sache nie gekommen. Damit war das schwarze Geräusch gerade außer Reichweite, gerade hinter dem nächstgelegenen Baum. Zugleich aber blieb das Grün dort, wo er es gerade noch berühren konnte. Gerade eben. So daß er so tun konnte, als wäre er ein wahrer Roter anstatt eines Whisky-Roten, der ja in Wirklichkeit nur ein Weißer war.
Doch heute nacht war es anders, zwei Monate lang war er ohne Branntwein gewesen, bis auf einen gelegentlichen Becher dann und wann, so daß vier Schlucke für ihn zu kräftig waren. Das Grün verschwand zusammen mit dem Schwarz. Doch das bekümmerte ihn nicht, heute nicht. Es bekümmerte ihn nicht, denn er mußte schlafen.
Als er am Morgen erwachte, kehrte das schwarze Geräusch gerade zurück. Er war sich nicht sicher, ob es die Sonne gewesen war oder das Geräusch, was ihn geweckt hatte, und es war ihm auch gleichgültig. Einmal gegen den Spund klopfen, vier Schlucke, nicht mehr. Diesmal hielt sich das Landgespür in der Nähe, er konnte es ein wenig fühlen. Genug, um den Hasen in seinem Loch ausfindig zu machen.
Ein dicker alter Stock. Hier ein Stück schneiden, dort anschneiden, damit in alle Richtungen splittrige Holzspitzen hervorragen.
Lolla-Wossiky kniete sich vor dem Hasenbau nieder.
»Ich bin sehr hungrig«, flüsterte er. »Und ich bin nicht sehr stark. Wirst du mir Fleisch geben?«
Er strengte sich an, um die Antwort zu vernehmen, strengte sich an, um zu wissen, ob er im Recht war. Doch alles war zu weit weg, und die Landstimme der Hasen war zu leise. Früher einmal konnte er alle Stimmen hören, erinnerte er sich, viele, viele Meilen entfernt. Wenn das schwarze Geräusch jemals verschwinden sollte, würde er vielleicht wieder hören können. Doch jetzt hatte er keine Möglichkeit festzustellen, ob die Hasen einwilligten oder nicht.
Daher wußte er auch nicht, ob er ein Recht darauf hatte. Er wußte nicht, ob er nahm wie ein roter Mann, gerade nur das, was das Land anbot, oder ob er stahl wie ein weißer Mann, der alles tötete, was er zu töten beliebte. Er hatte keine Wahl. Er schob den Stock in den Bau, drehte ihn. Er spürte, wie er erzitterte, hörte das Quieken, und zog ihn hervor, immer noch zuckend. Ein kleiner Hase, kein großer, nur ein kleiner Hase, der zappelte, um den Splittern zu entkommen, doch Lolla-Wossiky war schnell, kaum war der Hase am Ausgang erschienen, bereit, sich loszureißen und davonzuhuschen, als Lolla-Wossiky auch schon die Hand vorgeschoben hatte, den Hasen am Kopf festhielt, ihn ganz schnell in die Luft hob und herumwirbelte und ihn schüttelte. Als er ihn wieder senkte, war der kleine Hase tot, und Lolla-Wossiky trug ihn fort von dem Bau, zurück zum Faß, weil es sehr schlimm war, weil es eine leere Stelle im Land erzeugte, wenn man ein junges Tier häutete, während seine Verwandten einen sehen oder hören konnten.
Er machte kein Feuer. Das war zu gefährlich, und er hatte auch nicht genug Zeit, um das Fleisch zu räuchern, nicht so nahe bei dem Fort des weißen Mörders Harrison. Es war ohnehin nicht sehr viel Fleisch; er aß es auf, roh, so daß er sehr viel kauen mußte, aber der Geschmack war kräftig und gut. Wenn man kein Fleisch räuchern konnte, das wußte der rote Mann, mußte man soviel davon im Bauch mit sich herumtragen, wie es nur ging. Er stopfte das Fell in die Hüfte seines Lendenschurzes, hob sich das Faß auf die Schultern und setzte sich gen Norden in Bewegung. Vor ihm leuchtete das weiße Licht, rief das Traumtier nach ihm und drängte ihn weiter. Ich werde dich aufwecken, sagte das Traumtier, ich werde deinem Traum ein Ende setzen.
Der weiße Mann hatte von Traumtieren gehört. Der weiße Mann dachte, der rote Mann würde in den Wald hinausgehen und dort träumen. Dummer weißer Mann, er verstand nie etwas. Das ganze Leben war zunächst ein einziger langer Schlaf, ein einziger langer Traum. Im Augenblick der Geburt schlief man ein und wachte nicht mehr auf, wachte überhaupt nicht mehr auf, bis einen schließlich eines Tages das Traumtier rief. Dann ging man in den Wald, manchmal nur wenige Schritte weit, manchmal bis zum Ende der Welt. Man ging, bis man auf das Tief traf, das nach einem rief. Das Tier existierte nicht im Traum. Das Tier erweckte einen aus dem Traum. Das Tier zeigte einem, wer man war, lehrte einen, wo man im Land hingehörte. Dann kehrte man nach Hause zurück, endlich erwacht, und erzählte dem Schamanen und der Mutter und den Schwestern, wer das Traumtier war. Ein Bär? Ein Dachs? Ein Vogel? Ein Fisch? Ein Falke oder ein Adler? Eine Biene oder eine Wespe? Der Schamane erzählte einem Geschichten und half dabei, den eigenen Aufwachnamen auszuwählen. Die Mutter und die Schwestern gaben nun den Kindern des Aufgewachten Namen, ob sie schon geboren worden waren oder nicht.
Lolla-Wossikys sämtliche Brüder waren schon vor langer Zeit ihren Traumtieren begegnet. Nun war seine Mutter tot, seine beiden Schwestern waren fort und lebten bei einem anderen Stamm. Wer sollte seinen Kindern da Namen geben?