Erst dann merkte er, daß das Blut noch immer von seiner Hand troff, aus der Wunde, die er sich zugefügt hatte, um dem weißen Jungen Schmerz zu senden. Seine Hosen und das Hemd waren voll von Blut. Kleider der Weißen! Die habe ich nie gebraucht. Er streifte sie ab und warf sie in den Fluß.
Da geschah etwas Merkwürdiges. Die Kleider bewegten sich nicht. Sie legten sich auf die Wasseroberfläche, ohne zu versinken oder mit der Strömung zu treiben.
Wie konnte so etwas sein? War der Traum denn noch nicht vorbei? War er denn noch immer nicht erwacht?
Lolla-Wossiky schloß sein Auge. Sofort erblickte er etwas Entsetzliches und schrie auf vor Furcht. Sobald er sein Auge geschlossen hatte, sah er das schwarze Geräusch wieder, eine große, harte, gefrorene Schicht. Es war der Fluß. Es war das Wasser. Es war der Tod.
Er öffnete das Auge, und da war es wieder Wasser, doch noch immer bewegte sich seine Kleidung nicht.
Er schloß das Auge und sah, daß dort, bei den Kleidern, Licht auf der Oberfläche der Schwärze funkelte. Es sammelte sich, es schimmerte, es blendete. Es war sein eigenes Blut, was da leuchtete.
Nun konnte er erkennen, daß das schwarze Geräusch kein Ding war. Es war Nichts. Leere. Die Stelle, wo das Land endete, und die Leere begann; es war das Ende der Welt. Doch dort, wo sein eigenes Blut funkelte, war es wie eine Brücke über das Nichts. Lolla-Wossiky kniete nieder, das Auge immer noch geschlossen, und berührte mit seiner zerschnittenen und immer noch blutenden Hand das Wasser.
Es war warm und feucht. Er verschmierte sein Blut auf der Oberfläche, und es wurde eine Plattform daraus. Er kroch auf die Plattform hinaus. Sie war glatt und hart wie Eis, aber auch warm und einladend.
Er öffnete das Auge. Wieder war es ein Fluß, nur daß er unter ihm fest war. Überall, wo sein Blut damit in Berührung gekommen war, war das Wasser hart und glatt.
Er kroch hinaus zu der Kleidung, schob sie vor sich hin. Bis zur Mitte des Flusses kroch er weiter und über sie hinaus, hinterließ eine dünne, glühende Blutbrücke, die zur anderen Seite führte.
Was er hier tat, war unmöglich. Der Junge hatte noch sehr viel mehr getan, als ihn zu heilen. Er hatte die Ordnung der Dinge verändert. Es war angsteinflößend und wunderbar zugleich. Lolla-Wossiky sah in das Wasser zwischen seinen Händen hinab. Sein einäugiges Spiegelbild blickte zu ihm auf. Dann schloß er das Auge, und eine völlig neue Vision überkam ihn.
Er sah sich auf einer Lichtung stehen, wie er zu Hunderten von roten Männern sprach, zu Tausenden, zu Roten aller Stämme. Er sah sie eine Stadt bauen, tausend, fünftausend, zehntausend Rote, alle kräftig und gesund, frei vom Branntwein des weißen Mannes, vom Haß der Weißen. In seiner Vision nannten sie ihn den Propheten, doch er beharrte darauf, daß er nichts dergleichen sei. Er war nur das Tor, das geöffnete Tor. Tretet hindurch, sagte er, und seid stark, ein Volk, ein Land.
Das Tor. Tenskwa-Tawa. In seiner Vision erschien das Gesicht seiner Mutter, die dieses Wort zu ihm sagte. Tenskwa-Tawa. Das ist nun dein Name, denn der Träumer ist erwacht.
In dieser Nacht sah er noch sehr viel mehr, wie er in das feste Wasser des Wobbish River hinabstarrte, sah so viel, daß er es niemals alles würde erzählen können; er schaute die ganze Geschichte des Landes, das Leben eines jeden Mannes und einer jeden Frau, ob weiß oder rot oder schwarz, das Leben all jener, die jemals den Fuß darauf gesetzt hatten. Er sah den Anfang, wie er auch das Ende schaute. Große Krieger und kleine Grausamkeiten, all die Menschenmorde, all die Sünden; aber auch all die Güte, all die Schönheit.
Und über alledem eine Vision der Kristallstadt — Crystal City. Die Stadt, die aus Wasser bestand, das so fest und klar war wie Glas, Wasser, das niemals schmelzen würde, zu kristallenen Türmen geformt, so hoch, daß sie sieben Meilen lange Schatten über das Land hätten werfen müssen. Doch weil sie so rein und klar waren, warfen sie überhaupt keine Schatten, drang das Sonnenlicht ungehindert durch jeden Zoll und jede Meile von ihnen. Wo immer ein Mann oder eine Frau stehen mochten, konnten sie tief in den Kristall hineinschauen und alle Visionen erkennen, die Lolla-Wossiky nun schaute. Vollkommenes Verstehen, das war es, was sie besaßen, mit Augen aus reinem Sonnenlicht zu schauen und mit der Stimme des Blitzes auszusprechen.
Lolla-Wossiky, der von nun an Tenskwa-Tawa heißen sollte, wußte nicht, ob er die Kristallstadt erbauen, darin leben oder sie vor seinem Tod zu sehen bekommen würde. Es genügte, die ersten Dinge zu tun, die er im festen Wasser des Wobbish River schaute. Er schaute und schaute, bis sein Geist nichts mehr erkennen konnte. Dann kroch er ans gegenüberliegende Ufer, hinauf ans Land und ging so lange weiter, bis er zu der Weide gelangte, die er in seiner Vision geschaut hatte.
Hier würde er die Roten zusammenrufen, würde sie lehren, was er in seiner Vision geschaut hatte. Und er würde ihnen helfen, nicht die Stärksten zu werden, aber stark; nicht die Größten, aber groß; nicht die Freiesten, aber frei.
Ein gewisses Faß im Wipfel eines gewissen Baumes. Den ganzen Sommer lang war es verborgen geblieben, doch dann hatte der Regen es entdeckt und die Hitze des Hochsommers und die Insekten und die Zähne der salzhungrigen Eichhörnchen. Schließlich barst es, nur wenig, aber genug; die Flüssigkeit troff hervor, Tropfen um Tropfen; binnen weniger Stunden war das Faß leer.
Niemand vermißte es jemals. Niemand trauerte, als es vom Eis des Winters zerbrach, als die Äste den Baum hinab in den Schnee stürzten.
5. Ein Zeichen
Als sich die Nachricht von einem einäugigen roten Mann herumsprach, den man den Propheten nannte, lachte Gouverneur Bill Harrison laut auf und sagte: »Aber das ist ja niemand anders als mein alter Freund Lolla-Wossiky! Wenn das Branntweinfaß, das er mir gestohlen hat, erst einmal leer ist, wird er schon wieder damit aufhören, Visionen zu bekommen.«
Doch schon bald merkte Gouverneur Harrison, wie wichtig die Worte des Propheten genommen wurden und mit wieviel Ehrfurcht die Roten seinen Namen nannten, so ehrfürchtig wie wahre Christen den Namen Jesu aussprachen. Beunruhigt rief er alle Roten um Carthage City herum zusammen — es war kurz vor einem Whiskytag, so daß er sich über Mangel an Publikum keine Sorgen zu machen brauchte —, und hielt ihnen eine Rede. Und in dieser Rede sagte er vor allem eins: »Wenn der alte Lolla-Wossiky wirklich ein Prophet ist, dann sollte er ein Wunder für uns vollbringen, um uns zu zeigen, daß mehr hinter ihm steckt als nur Gerede. Ihr solltet ihn dazu bringen, eine Hand oder einen Fuß abzuschneiden und wieder anheilen zu lassen — das würde uns doch beweisen, daß er ein Prophet ist, nicht wahr? Oder noch besser, soll er doch ein Auge ausreißen und es wieder heilen. Was sagt ihr da? Ihr meint, daß ihm bereits ein Auge fehlt? Nun, dann ist er doch wohl reif für ein Wunder, meint ihr nicht? Ich behaupte, solange er nur ein Auge hat, kann er auch kein Prophet sein!«
Die Kunde davon erreichte den Propheten, als er gerade auf einer Weide am Ufer des Tippy-Canoe lehrte, keine Meile von der Stelle entfernt, wo dieser in den Wobbish strömte. Es waren einige Whisky-Rote, die von dieser Herausforderung erzählten, und sie zierten sich nicht, den Propheten zu verhöhnen und zu sagen: »Wir sind gekommen, um zu sehen, wie du dein Auge wieder heil machst.«
Der Prophet sah sie mit seinem gesunden Auge an und sagte: »Mit diesem Auge sehe ich zwei rote Männer, die schwach und krank sind, Sklaven des Branntweins, die Sorte Männer, die mich sogar mit den Worten des Mannes verhöhnen würden, der meinen Vater getötet hat.« Dann schloß er sein gesundes Auge und sagte: »Mit diesem Auge sehe ich zwei Kinder des Landes, stark und schön, die ihre Frauen und Kinder lieben und allen Wesen Gutes tun.« Dann öffnete er das Auge wieder und sagte: »Welches Auge ist nun krank und welches Auge schaut die Wahrheit?« Und sie sagten zu ihm: »Tenskwa-Tawa, du bist ein wahrer Prophet, und deine beiden Augen sind heil.«