Nein, ganz so stimmte das auch wieder nicht. Er hatte noch sehr viel zu tun, obwohl er noch nicht genau wußte, was, so daß es ihn geärgert hätte, zu sterben. Auf jeden Fall hatte er nicht vor, zu sterben. Es jagte ihm nur nicht so viel Furcht ein wie manchen anderen Leuten.
Sein großer Bruder Measure versuchte Ma zu beruhigen. »Es wird uns schon nichts passieren, Mama«, sagte Measure. »Unruhen gibt es nur unten im Süden, und wir werden die ganze Zeit auf befestigten Straßen reisen.«
»Auf diesen Straßen verschwinden jede Woche Leute«, erwiderte sie. »Diese Franzosen in Detroit kaufen immer noch Skalps, und es spielt überhaupt keine Rolle, was Ta-Kumsaw und seine Wilden tun, ein einziger Pfeil genügt schon, um euch zu töten…«
»Ma«, erwiderte Measure. »Wenn du Angst davor hast, daß die Roten uns erwischen, dann solltest du eigentlich wollen, daß wir gehen. Ich meine, in Prophetstown, genau gegenüber am anderen Ufer, wohnen mindestens zehntausend Rote. Das ist inzwischen die größte Stadt westlich von Philadelphia, und alle Einwohner sind Rote. Wenn wir jetzt nach Osten reisen, dann entkommen wir den Roten sogar…«
»Dieser einäugige Prophet macht mir keine Sorgen«, versetzte sie. »Er spricht nie vom Töten. Ich meine einfach nur, daß ihr nicht…«
»Es spielt keine Rolle, was du meinst«, sagte pa.
Ma drehte sich zu ihm um. »Sag du mir nicht, daß es keine Rolle spielt, was ich…«
»Es spielt keine Rolle, was ich meine«, erwiderte Pa. »Es spielt keine Rolle, was irgend jemand meint, und das weißt du auch.«
»Wenn dem so sein sollte, dann weiß ich nicht, weshalb der Herr uns überhaupt ein Gehirn gegeben hat, Alvin Miller!«
»Al wird nach Osten zum Hatrack River reisen, um bei einem Hufschmied in die Lehre zu gehen«, antwortete Pa. »Ich werde ihn vermissen, du wirst ihn vermissen, wahrscheinlich werden alle ihn vermissen außer Reverend Thrower, aber der Lehrvertrag ist nun einmal unterschrieben, und Al Junior wird reisen. Anstatt zu klagen, daß du sie nicht ziehen lassen willst, solltest du den Jungen also lieber einen Abschiedskuß geben und ihnen zuwinken.«
Der Blick, den sie Pa zuwarf, hätte Milch gerinnen lassen. »Ich werde meinen Jungen schon ihren Abschiedskuß geben und sie winkend verabschieden«, warf sie ein. »Ich brauche dich nicht, um mir das zu sagen. Du brauchst mir überhaupt nichts zu sagen.«
»Ich schätze nicht«, sagte Pa. »Aber ich sage es dir trotzdem, und ich nehme an, daß du mir diesen Gefallen schon noch erwidern wirst, wie du es schon immer getan hast.« Er streckte die Hand zu Measure empor, um auf Wiedersehen zu sagen. »Bring ihn nur sicher hin und komm sofort zurück«, trug er ihm auf.
»Du weißt, daß ich das tun werde«, erwiderte Measure.
»Deine Ma hat recht, jeder Schritt ist gefährlich, also halte die Augen offen.«
»Das werde ich tun, Pa.«
Und dann verabschiedete Ma sich von Measure, während Pa zu Al hinüberschritt. Er verpaßte ihm einen ordentlichen Klaps aufs Bein und schüttelte auch seine Hand. Es freute Alvin, daß Pa auch ihn wie einen erwachsenen Mann behandelte.
»Ich fürchte mich nicht vor den Roten«, sagte Al. Er sprach sehr leise, damit Ma ihn nicht hören konnte. »Aber ich wünschte mir wirklich, ich müßte nicht gehen.«
»Das weiß ich, Al«, erwiderte Pa. »Aber du mußt gehen. Es ist zu deinem eigenen Besten.«
Dann bekam Pa diesen merkwürdigen traurigen Gesichtsausdruck, den Al Junior schon mehr als einmal bemerkt, aber nie verstanden hatte. Pa war ein seltsamer Mann. Es hatte lange gedauert, bis Al das begriffen hatte. Denn erst als er älter wurde, begann Al, seinen Vater mit anderen Männern zu vergleichen. Mit Brustwehr-Gottes Weaver zum Beispiel, dem wichtigsten Mann in der Stadt, der immer vom Frieden mit den Roten sprach und das Land der Roten und der Weißen auf Karten festhielt — dem alle mit Respekt lauschten. Aber wenn Pa etwas sagte, nahm niemand das so ernst, man diskutierte vielleicht ein wenig, aber man wußte, daß es nicht wirklich wichtig war. Wenn Reverend Thrower von seiner Kanzel über Tod und Wiedergeburt und Höllenfeuer und den Lohn des Himmels sprach — hörte ihm jeder zu. Sie hörten anders zu als bei Brustwehr, mit mehr Respekt, weil es immer um Religion ging und nicht um irgendwelche Alltagssorgen.
Wenn Pa dagegen redete, hörten die anderen Leute ihm zwar zu, aber manchmal machten sie sich auch lustig. »Oh, Alvin Miller, Ihr redet aber auch gern, nicht!« Al bemerkte es, und am Anfang hatte es ihn zornig gemacht. Doch dann hatte er erkannt, daß die Leute, wenn sie in Schwierigkeiten waren und Hilfe brauchten, nicht etwa zu Reverend Thrower oder Brustwehr-Gottes gingen, denn keiner von denen wußte besonders viel darüber, wie er die Art von Problemen lösen konnte, die die Leute von Zeit zu Zeit hatten. Thrower mochte ihnen vielleicht sagen, wie sie nicht in die Hölle kamen, aber das war ja auch erst dann wichtig, wenn sie tot waren; und Brustwehr mochte ihnen zwar erklären, wie sie mit den Roten Frieden halten konnten, aber das war hohe Politik. Aber wenn sie sich wegen einer Feldgrenze stritten oder nicht wußten, was sie mit einem Jungen tun sollten, der immer frech zu seiner Mutter war, oder wenn die Getreidekäfer ihr Saatgut aufgefressen hatten und sie nichts mehr zum Säen hatten, dann kamen die Leute zu Al Miller. Wenn Al Junior seinen Pa also mit anderen Männern verglich, wußte er zwar, daß Pa etwas seltsam war und Dinge tat, deren Grund nur er allein kannte. Aber er wußte auch, daß man Pa vertrauen konnte. Vor Brustwehr-Gottes und Reverend Philadelphia Thrower mochten die Leute zwar Respekt haben, aber Al Miller vertrauten sie.
Und auch Al Junior vertraute seinem Pa. Selbst wenn er sein Zuhause nicht verlassen wollte, selbst wenn er dem Tod so nahe gewesen war, daß er eine Lehrzeit und ähnliche Dinge für Zeitverschwendung hielt — was spielte es schon für eine Rolle, welches Handwerk er erlernte, gab es im Himmel etwa Hufschmiede? Aber er wußte doch, daß er gehen würde, wenn Pa meinte, daß es für ihn das beste sei. So wie die Leute immer wußten, daß es richtig war, wenn Al Miller zu ihnen sagte: »Tut einfach dies und jenes, dann kommt schon alles ins Lot.«
Er hatte Pa gesagt, daß er nicht gehen wollte; und Pa hatte geantwortet, er solle dennoch gehen, es sei zu seinem Besten. Mehr brauchte Alvin Junior nicht zu wissen. Er hatte genickt und getan, was Pa gesagt hatte; nicht etwa, weil es ihm an Temperament gefehlt hätte oder weil er sich vor seinem Pa fürchtete, wie andere Jungen es taten. Er kannte seinen Pa einfach nur gut genug, um seinem Urteil zu vertrauen. So einfach war das.
»Ich werde dich vermissen, Pa.« Und dann wich Pa einen Schritt zurück, um Ma Platz zu machen, damit sie ihn verabschieden konnte. Die Tränen liefen ihr das Gesicht herunter, aber sie hatte keine allerletzte Liste von Geboten und Verboten für ihn parat, wie sie sie für Measure hatte. Sie küßte einfach nur seine Hand, klammerte sich daran, sah ihm in die Augen und sagte: »Wenn ich dich heute gehen lasse, werde ich dich nie mehr wiedersehen, solange ich lebe, nicht.«
»Nein, Ma, sag nicht so etwas«, erwiderte er. »Mir wird schon nichts Schlimmes passieren.«
»Denk nur an mich«, sagte sie. »Und behalte das Amulett, das ich dir gegeben habe. Du mußt es die ganze Zeit tragen.«
»Was bewirkt es denn?« fragte er und holte es wieder aus der Tasche. »So eins kenne ich noch gar nicht.«
»Mach dir darüber mal keine Gedanken, behalte es immer nur in der Nähe.«
»Das werde ich tun, Ma.«
Dann führte Measure sein Pferd neben Al Juniors Reittier. »Wir müssen los«, sagte er.