Tatsächlich zogen nun alle anderen auch ihre Messer, um sie zu prüfen, ließen die Schneiden erst über Als oder Measures Haut fahren, um einander schließlich anzuschreien und sich anscheinend darüber zu zanken, wer an dem Ganzen schuld war.
Doch schließlich hatten sie eine Aufgabe zu erledigen. Sie sollten diese weißen Jungen martern oder sie wenigstens schlimm genug zerstückeln, damit ihre Leute nach Rache zu dürsten begannen, sobald sie die Leichen gefunden hatten.
Also zückte einer der Roten seinen altmodischen Tommy-hawk mit der steinernen Klinge und schwang ihn vor Als Gesicht, fuchtelte ordentlich damit herum, um ihm Angst einzujagen. Al nutzte die Zeit, um den Stein aufzuweichen, das Holz zu schwächen, die Riemen zu lockern, die alles zusammenhielten. Als der Rote die Waffe schließlich hob, um wirklich zuzuschlagen, fiel sie auseinander. Das Holz war vollkommen durchgefault, der Stein fiel in Stücken zu Boden, und selbst der Riemen war gespalten und zerfranst. Der rote Mann schrie auf und sprang zurück, als hätte ihn eine Klapperschlange gebissen.
Ein weiterer Roter mit einer Steinaxt legte Measures Hand auf einen Stein und schlug zu, um ihm die Finger abzuhacken. Doch auch diese Sache war für Al nicht weiter schwierig. Hatte er nicht auch ganze Mühlsteine gebrochen und geschnitten, wenn es sein mußte? Also prallte das Beil hallend auf den Stein, und Measure keuchte auf. Aber als der Rote den Tommy-hawk wieder aufnahm, lag Measures Hand völlig unversehrt da, während die steinerne Klinge fingerförmige Abdrücke aufwies, als bestünde sie aus weicher Butter.
Die Roten heulten auf, blickten einander ängstlich an, offenbarten Furcht und Wut angesichts des seltsamen Geschehens. Da er ein Weißer war, konnte Alvin nicht wissen, daß das Schlimmste an der ganzen Sache darin bestand, daß sie überhaupt nichts spürten, wie es sonst bei den Zaubern des weißen Mannes doch der Fall gewesen war. Für gewöhnlich empfanden sie den Zauber eines Weißen als eine Art Höcker in ihrem Landgespür, doch das, was Alvin tat, beeinträchtigte das Land nicht im geringsten, nichts sah anders aus, als es hätte sein sollen. Es war, als hätten sich für sie plötzlich die Naturgesetze auf den Kopf gestellt, plötzlich war Stahl weich geworden und Fleisch hart, war Gestein morsch und Leder so reißfähig wie Gras. Sie suchten nicht bei Al oder Measure nach der Ursache dieses Geschehens. Soweit sie es begreifen konnten, hatten sie es hier mit irgendeiner Naturkraft zu tun.
Alvin sah nur ihre Furcht und ihre Verwirrung, was ihm durchaus behagte. Doch er wurde nicht übermütig; es war ihm klar, daß es einige Dinge gab, mit denen er nicht zurechtzukommen wußte. Das Wasser, zum Beispiel. Wenn sie auf den Gedanken kommen sollten, die beiden Jungen zu ertränken, würde Al nicht wissen, wie er sich und Measure retten könnte. Er war erst zehn, und da ihn Regeln einschränkten, die er nicht verstand, hatte er noch nicht genau herausgefunden, wozu sein Talent nützlich war oder wie es funktionierte.
Immerhin hatte er Glück: Sie dachten nicht ans Ertränken. Aber an Feuer dachten sie. Höchstwahrscheinlich hatten sie das von Anfang an geplant: Die Leute erzählten sich immer Geschichten von Marteropfern, im New England der Rotenkriege, die mit geschwärzten Füßen in der auskühlenden Asche eines Feuers gestanden hatten, wo sie hatten mitansehen müssen, wie ihre eigenen Zehen verkohlten, bis der Schmerz und der Blutverlust ihrem Leben ein Ende gesetzt hatten. Alvin sah, wie sie das Feuer schürten und gleißend brennende Zweige darauflegten, damit es aufloderte. Er wußte nicht, wie er einem Feuer die Hitze nehmen konnte, er hatte es noch nie versucht. Also dachte er so schnell nach, wie er nur konnte, und als sie Measure gerade unter die Arme griffen und ihn zum Feuer zerrten, begab er sich im Geiste ins Innere des Feuerholzes und zerbrach es, ließ es zu Staub zerbröckeln, damit es ganz schnell abbrannte, alles auf einmal, in einem Feuer, das so schnell aufloderte, daß es einen lauten Knall gab und ein greller Lichtblitz gen Himmel schoß. So schnell loderte es auf, daß es einen Windstoß erzeugte, der aus allen Richtungen gleichzeitig auf die Stelle zuwehte, wo gerade zuvor noch das Feuer gewesen war, und es erzeugte für einen kurzen Augenblick einen Wirbelwind, der die Asche aufsaugte und sie auseinanderstieben ließ, bis sie wie Staub wieder niederging.
Einfach so: Nichts war vom Feuer übriggeblieben bis auf feinen Staub, der sich wie Nebel über die ganze Lichtung verteilte.
Oh, die Roten heulten und sprangen und tanzten und schlugen sich selbst auf Brust und Schulter. Und während sie sich aufführten wie bei einer irischen Beerdigung, lockerte Al seine und Measures Fesseln, hoffte wider besseren Wissen, daß es ihnen vielleicht doch noch gelingen würde zu fliehen, bevor ihre Familie und die Nachbarn sie fanden und das Schießen und Töten begann.
Measure spürte natürlich, wie sich die Fesseln lockerten, und warf Alvin einen scharfen Blick zu; bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihn das Geschehen ebenso verwirrt wie die Roten. Natürlich wußte er sofort, daß Alvin dahintersteckte, doch Alvin hatte ihm ja nicht erklären können, was er vorhatte, so daß Measure davon ebenso überrascht worden war wie die anderen. Nun aber sah er Alvin an und nickte, und dann begann er damit, seine Arme aus den Fesseln zu winden. Bisher hatte keiner der Roten es bemerkt, und vielleicht würden sie doch noch einen Vorsprung bekommen, oder vielleicht — ganz vielleicht — würden die Roten so aufgeregt sein, daß sie nicht einmal versuchen würden, sie zu verfolgen.
Doch in diesem Augenblick änderte sich alles schlagartig. Im Wald ertönte Geheul, das sich plötzlich wiederholte, bis es sich anhörte wie dreihundert Eulen im Kreis. Measure mußte einen Augenblick gedacht haben, daß Al auch dies bewirkt hatte, so jedenfalls sah er seinen kleinen Bruder an — aber die Roten wußten sofort, was es war. Die Furcht in ihren Mienen verriet Al jedoch, daß ihre Pläne offensichtlich durchkreuzt worden waren.
Aus dem Wald, der die Lichtung umgab, traten zunächst Dutzende, dann einhundert Rote hervor. Alle trugen sie Pfeil und Bogen — nicht eine Muskete war darunter —, und so, wie sie sich kleideten und ihr Haar trugen, erkannte Al, daß es Shaw-Nee waren, noch dazu Anhänger des Propheten.
Einer der Roten trat aus der Schar hervor, ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit einem Gesicht so hart und scharf wie Stein. Er feuerte einige hart klingende Worte ab, und sofort begannen die gestellten Roten zu plappern, zu faseln, zu flehen. Sie benahmen sich wie die Kinder, dachte Al, wie Kinder, die etwas getan hatten, was eigentlich verboten war, und die nun von ihrem Vater dabei erwischt worden waren.
Dann vernahmen sie vor allen ein Wort in all dem Gejammer — einen Namen: Ta-Kumsaw. Als sah zu Measure hinüber, um festzustellen, ob er es gehört hatte, und Measure blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, um ihn das gleiche zu fragen. Und beider Lippen formten zur gleichen Zeit denselben Namen: Ta-Kumsaw.
Hieß das etwa, daß Ta-Kumsaw hier das Kommando hatte? War er zornig auf ihre Peiniger, weil sie beim Martern versagt hatten oder weil sie die weißen Jungen überhaupt gefangengenommen hatten? Die Roten würden es ihnen gewiß nicht erklären. Sicher konnte Al sich nur dessen sein, was sie taten. Die Neuankömmlinge nahmen den anderen die Musketen ab und führten sie in den Wald. Nur ein Dutzend Roter blieb bei Al und Measure zurück. Unter ihnen auch Ta-Kumsaw.