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Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er so mit seiner Mutter gesprochen, und auch jetzt war er sich nicht sicher, daß es ihm gefiel. Doch sie benahm sich verrückt, sie wollte nicht begreifen, daß jetzt Krieg herrschte, daß diese Roten den Weißen offen den Kampf angesagt hatten und ihnen daher gar nichts anderes mehr übrigblieb.

Was ihm jedoch am meisten zu schaffen machte, als er sein Pferd bestieg und zu David hinausritt, war, daß er den Verdacht nicht loswurde, daß Papa weinte. Das war wirklich unerhört. Noch gestern hatte Papa so hitzig gegen die Roten geredet, und heute redete Mama gegen den Krieg, und Papa saß einfach nur da und weinte. Vielleicht wurde er alt. Aber das konnte Wastenot jetzt nicht kümmern. Vielleicht wollten Papa und Mama jene nicht töten, die ihnen ihre Söhne genommen hatten — doch Wastenot wußte, was er mit denen tun würde, die ihm seine Brüder genommen hatten. Deren Blut war sein Blut, und wer immer sein Blut vergoß, der würde auch sein eigenes vergießen, eine ganze Gallone für jeden Tropfen.

9. Lake Mizogan

In seinem ganzen Leben hatte Alvin noch nie so viel Wasser auf einmal gesehen. Er stand oben auf einer Sanddüne und blickte über den See. Measure stand neben ihm, eine Hand auf Als Schulter gelegt.

»Pa hat mir aufgetragen, dich vom Wasser fernzuhalten«, sagte Measure, »und jetzt schau mal, wo sie dich nun hinbringen.«

Der Wind war heiß und heftig, manchmal wallte er auf und ließ Sandkörner wie winzige Pfeile umherschießen. »Dich aber auch«, meinte Al.

»Sieh mal, da braut sich ein richtiges Gewitter zusammen.«

Weitab im Südwesten wurden die Wolken schwarz und häßlich. Das war kein gewöhnlicher Sommerregen. Blitze zuckten über das Antlitz der Wolken. Der Donner kam sehr viel später. Als Alvin zusah, hatte er plötzlich das Gefühl, als könnte er viel weiter schauen als vorher, als könnte er das Brodeln in den Wolken erkennen, die Hitze und die Kälte spüren, die eisige Luft, die in die Tiefe fegte, die heiße Luft, die emporjagte, wie sich alles im riesigen Kreis des Himmels wand.

»Ein Tornado«, sagte Al. »In dem Sturm dort steckt ein Tornado.«

»Ich kann keinen erkennen«, meinte Measure.

»Er kommt. Schau doch mal, wie die Luft sich dort dreht. Schau dir das nur an.«

»Ich glaube dir, Al. Aber es gibt hier keinen Platz, wo man sich unterstellen könnte.«

»Schau dir nur diese ganzen Leute an«, sagte Alvin. »Wenn es uns hier erwischt…«

»Seit wann kannst du das Wetter voraussagen?« fragte Measure. »Das hast du noch nie getan.«

Darauf wußte Al keine Antwort. Er hatte tatsächlich noch nie einen Sturm so deutlich in seinem Inneren gespürt wie jetzt. Es war wie die grüne Musik, die er gestern nacht gehört hatte; seitdem diese Roten ihn gefangengenommen hatten, geschahen alle möglichen merkwürdigen Dinge. Doch er durfte keine Zeit mehr damit verlieren, darüber nachzudenken, woher er das wußte — es genügte, daß er es wußte. »Ich muß irgend jemanden warnen.«

Alvin stürzte so schnell die Düne hinunter, wie nie zuvor in seinem Leben. Measure jagte ihm nach und rief: »Sie haben uns gesagt, wir sollen so lange hier oben bleiben bis …« Ein Windstoß ließ ihn verstummen. Al mußte die Augen mit der Hand abschirmen, das Gesicht vom Wind abwenden, mußte alles tun, was verhinderte, daß er geblendet wurde, während er auf die Roten zulief, die sich am Ufer versammelt hatten.

Ta-Kumsaw war leicht auszumachen, und dies nicht nur, weil er so groß war. Die anderen Roten hatten viel Raum um ihn herum gelassen, und er stand da wie ein König. Al lief direkt auf ihn zu. »Es kommt ein Tornado!« schrie er. »In der Wolke dort drüben stecken Tornados!«

Ta-Kumsaw legte den Kopf zurück und lachte; der Wind war so laut, daß Al ihn kaum hören konnte. Dann griff Ta-Kumsaw über Als Kopf hinweg, um die Schulter eines anderen zu berühren, der vor ihm stand. »Das ist der Junge!« rief Ta-Kumsaw.

Al blickte den Mann an, den Ta-Kumsaw berührte. Dieser andere Rote benahm sich überhaupt nicht wie ein König — überhaupt nicht wie Ta-Kumsaw. Er war etwas gebeugt, und es fehlte ihm ein Auge, schlaff hing das Lid über der leeren Höhle. Er wirkte angespannt, seine Arme waren eher drahtig als muskulös, die Beine waren regelrecht verkümmert. Doch als Al ihm ins Gesicht blickte, erkannte er ihn wieder.

Ganz kurz ließ der Wind nach.

»Leuchtender Mann«, sagte Al.

»Schabenjunge«, erwiderte Tenskwa-Tawa, Lolla-Wossiky, der Prophet.

»Dich gibt es wirklich«, sagte Al. Kein Traum, keine Vision. Ein wirklicher Mann, der am Fußende seines Bettes gestanden hatte, verschwindend und wieder erscheinend, mit einem Gesicht, das so grell wie Sonnenlicht geleuchtet hatte, daß es die Augen geschmerzt hatte, es anzublicken. »Ich habe dich nicht geheilt!« sagte Al. »Das tut mir leid.«

»Doch, das hast du getan«, erwiderte der Prophet.

Dann fiel Al wieder ein, weshalb er die Düne hinuntergelaufen und in das Gespräch zwischen den beiden größten Roten auf der ganzen Welt geplatzt war, diesen Brüdern, deren Namen jeder Weiße jenseits der Appalachees kannte.

»Tornados!« rief er.

Wie um ihm zu antworten, peitschte der Wind wieder auf, jetzt heulte er schon. Al drehte sich um und sah, daß das, was er geschaut und gespürt hatte, nun Wirklichkeit wurde. Am Himmel bildeten sich vier Wirbel, die aus der Mitte des Sturmes heraushingen wie Schlangen von einem Baum.

Alle vier kamen auf sie zu, berührten jedoch noch nicht den Boden.

»Jetzt!« rief der Prophet.

Ta-Kumsaw reichte seinem Bruder einen Pfeil mit einer Feuersteinspitze. Der Prophet setzte sich in den Sand und rammte die Spitze des Pfeils erst in die Sohle seines linken, dann in die seines rechten Fußes. Sofort strömte das Blut aus den Wunden hervor. Nun machte er dasselbe mit seinen Händen, rammte den Pfeil tief in die Handflächen hinein.

Ohne nachzudenken stieß Al einen Schrei aus und begann, seinen Geist in den Körper des Propheten eindringen zu lassen, um die Wunden zu heilen.

»Nein!« rief der Prophet. »Das ist die Macht des roten Mannes — das Blut seines Körpers — das Feuer des Landes!«

Dann stand er auf, drehte sich um und schritt in den Lake Mizogan hinein.

Nein, nicht in den See, sondern auf ihn. Alvin traute seinen Augen nicht, doch unter den blutigen Füßen des Propheten wurde das Wasser so glatt und flach wie Glas, und der Prophet stand darauf. Sein Blut bildete eine tiefrote Pfütze auf der Oberfläche. Wenige Ellen entfernt wurde das Wasser unruhig, die vom Wind aufgepeitschten Wogen liefen auf die glatte Stelle zu, um plötzlich ihrerseits flach zu werden, ruhig und glatt.

Der Prophet ging immer weiter, hinaus auf das Wasser, seine blutigen Fußabdrücke markierten den glatten Weg durch den Sturm.

Al sah zu den Tornados zurück. Die waren inzwischen ganz nahe, tobten beinahe über ihren Köpfen. Er spürte, wie sie sich in seinem Inneren wanden, als wäre er Teil der Wolken; es waren die großen, tobenden Gefühle seiner eigenen Seele.

Draußen auf dem Wasser hob der Prophet die Hände und deutete auf einen der Wirbel. Fast im selben Augenblick erhoben sich die anderen drei, wurden von den Wolken wieder aufgesaugt und verschwanden. Der eine jedoch kam näher, bis er direkt über dem Propheten schwebte, etwa hundert Fuß über ihm; nah genug, um den See am Rande des glasigen, glatten Prophetenwegs aufpeitschen zu lassen, als wollte das Wasser die Wolken mit sich reißen; es begann zu kreiseln, strudelte unter dem Wirbel im Wind herum und herum.

»Komm!« rief der Prophet.

Alvin konnte ihn zwar nicht hören, doch er sah seine Augen — selbst auf diese Entfernung —, sah seine Lippen sich bewegen und wußte, was der Prophet wollte. Alvin zögerte nicht. Er trat auf das Wasser hinaus.