Harrison eilte zur vorderen Veranda, und Mike Fink folgte ihm. Kanonen? Was hatten Kanonen damit zu tun, ob man eine Leiche brauchte oder nicht? Für wen hielt er Mike eigentlich, für einen Mörder etwa? Hooch umzubringen war eine Sache gewesen, und einen Mann in einem fairen Kampf zu töten, das war eine andere. Aber einen jungen Mann mit einem Knebel im Mund umzubringen, das konnte man mit nichts vergleichen. Als er das Ohr abgebissen hatte, hatte er sich einfach unwohl gefühlt. Es war keine Trophäe eines fairen Kampfes gewesen. Es hatte ihn richtig deprimiert. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, auch noch das andere Ohr abzubeißen.
Mike stellte sich neben Harrison und sah zu, wie die Pferde die vier Kanonen stramm zogen. Er wußte, wie Harrison diese Geschütze einsetzen wollte, er hatte seine Planung mitbekommen. Zwei hier, zwei dort, so sie die rote Stadt von zwei Seiten mit Feuer bestreichen konnten.
Das ist nicht meine Art von Kampf, dachte Mike. Überhaupt keine Herausforderung, als würde man auf Froschkindern herumtrampeln. So etwas kann man tun, ohne darüber nachzudenken. Aber dann nimmt man die toten Frösche nicht auf, stopft sie aus und hängt sie an die Wand, so etwas tut man einfach nicht.
13. Der Achtgesichtige Hügel
Das Land um den Licking River fühlte sich anders an. Alvin bemerkte es nicht sofort, weil er gewissermaßen auf Sparflamme lief. Er merkte überhaupt nicht viel. Das ganze Laufen war ihm ein einziger langer Traum. Doch als Ta-Kumsaw ihn ins Feuersteinland führte, veränderte sich dieser Traum. Egal, was er im Traum schaute, überall um ihn waren winzige Funken eines tiefschwarzen Feuers zu sehen. Nicht wie das Nichts, das immer am Rande seines Gesichtsfeldes lauerte. Nicht wie das tiefe Schwarz, das das Licht aufsaugte und es nie wieder freigab. Nein, dieses Schwarz leuchtete und ließ Funken stieben.
Und als sie aufhörten zu laufen und Alvin wieder zu sich kam, verblaßten diese schwarzen Feuer zwar ein wenig, verschwanden aber nicht ganz. Ohne auch nur nachzudenken, schritt Alvin auf eines davon zu, auf ein schwarzes Lodern in einem Meer von Grün, beugte sich vor und nahm es auf. Ein Feuerstein. Ein großer Feuerstein.
»Ein Zwanzig-Pfeile-Feuerstein«, sagte Ta-Kumsaw.
»Er schimmert schwarz und brennt kalt«, bemerkte Alvin.
Ta-Kumsaw nickte. »Willst du ein roter Junge werden? Dann mache Pfeilspitzen mit mir.«
Alvin lernte schnell. Er hatte Erfahrung im Bearbeiten von Gestein. Beim Feuerstein jedoch zählte die Kante und nicht die glatte Fläche. Seine ersten beiden Pfeilspitzen wirkten unbeholfen, doch dann gelang es ihm, sich in den Stein hineinzufühlen und seine natürlichen Falten und Brüche zu erspüren, um ihn auseinanderzubrechen. Seine vierte Pfeilspitze brauchte er nicht erst zu bearbeiten. Er benutzte einfach nur die Finger und zog die Pfeilspitze sanft aus dem Feuerstein hervor.
Ta-Kumsaws Gesicht blieb ausdruckslos. Die meisten Weißen glaubten, daß er immer so aussah. Sie glaubten, daß der rote Mann und ganz besonders Ta-Kumsaw niemals etwas fühlte, weil er sich seine Gefühle nie anmerken ließ. Doch Alvin hatte ihn lachen und weinen sehen, und er hatte all die anderen Gesichter an ihm erblickt, wenn seine Miene ausdruckslos blieb, in Wirklichkeit sehr viel empfand.
»Ich habe schon viel mit Steinen gearbeitet«, sagte Alvin. Er hatte ein Gefühl, als würde er sich entschuldigen.
»Feuerstein ist kein einfaches Gestein«, sagte Ta-Kumsaw. »Kiesel im Fluß, Felsen, das sind Steine. Das hier aber ist lebendiger Stein, Stein, der Feuer enthält, die harte Erde, die das Land uns großzügig gibt. Nicht herausgehauen und gefoltert, wie die Weißen es mit ihrem Eisen tun.« Er hielt Alvins vierte Pfeilspitze empor. »Stahl kann nie eine solch scharfe Kante bekommen.«
»Es ist so ziemlich die vollkommenste Kante, die ich je gesehen habe«, meinte Al.
»Keine Bearbeitungsspuren«, sagte Ta-Kumsaw. »Ein Roter, der diesen Feuerstein sieht, wird sagen: Das Land hat den Stein so wachsen lassen.«
»Aber Ihr wißt es besser«, warf Al ein. »Ihr wißt, daß es nur eine Fertigkeit von mir ist.«
»Eine Fertigkeit beugt das Land«, entgegnete Ta-Kumsaw. »Wie ein Riß im Fluß das Wasser an seiner Oberfläche aufwühlt. So ist es mit dem Land, wenn ein Weißer seine Fertigkeit einsetzt. Aber nicht bei dir.«
Alvin grübelte eine Weile darüber nach. »Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr sehen könnt, wo andere Leute ihre Rutengängerei oder Beschwörungen oder Zauberei betrieben haben?«
»Wie den schlechten Gestank eines Kranken, der seinen Darm leert«, antwortete Ta-Kumsaw. »Aber du — was du tust, ist rein. Es ist wie ein Teil des Landes. Ich dachte, ich würde dich lehren, ein Roter zu werden, statt dessen gewährte dir das Land Pfeilspitzen wie ein Geschenk.«
Wieder war Alvin danach zumute, sich zu entschuldigen. Es schien Ta-Kumsaw zornig zu machen, daß er solche Dinge zu tun vermochte. »Ich habe ja niemanden darum gebeten«, sagte er. »Ich bin einfach nur der siebente Sohn eines siebenten Sohnes und das dreizehnte Kind.«
»Diese Zahlen — sieben, dreizehn —, Ihr Weißen schert Euch darum, aber dem Land bedeuten sie nichts. Das Land hat wahre Zahlen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs — diese Zahlen findest du, wenn du im Wald stehst und dich umschaust. Wo bleibt da die Sieben? Wo ist die Dreizehn?«
»Vielleicht sind sie deshalb so stark«, meinte Alvin. »Vielleicht, weil sie nicht natürlich sind.«
»Warum liebt das Land dann dieses Unnatürliche, was du tust?«
»Ich weiß es nicht, Ta-Kumsaw. Ich bin erst zehn und werde bald elf.«
Ta-Kumsaw lachte. »Zehn? Elf? Sehr schwache Zahlen!«
Sie verbrachten die Nacht dort, am Rande des Feuersteinlands. Ta-Kumsaw erzählte Alvin die Geschichte dieses Orts, daß er die beste Feuersteingegend im ganzen Land war. So viele Feuersteine die Roten hier auch holen mochten, immer wieder kamen neue aus dem Boden hervor und lagen einfach herum, um aufgehoben zu werden. In vergangenen Jahren hatte der eine oder andere Stamm immer wieder einmal versucht, diesen Ort für sich zu beanspruchen. Dann waren sie mit Kriegern gekommen und hatten alle getötet, die hier Feuersteine holen wollten. Sie hatten geglaubt, daß sie auf diese Weise als einzige Pfeile bekommen würden, die anderen Stämme aber nicht. Doch es war anders gekommen. Denn kaum hatte ein Stamm seine Schlachten gewonnen und das Land besetzt, als die Feuersteine einfach verschwanden. Die Mitglieder des Stammes mochten suchen, soviel sie wollten, nie fanden sie auch nur einen einzigen Stein mehr. Schließlich zogen sie fort, ein anderer Stamm kam, und plötzlich gab es wieder mehr Feuersteine denn je.
»Dieser Ort gehört allen. Alle Roten leben hier in Frieden miteinander. Kein Töten, kein Krieg, kein Streit — sonst bekommt der Stamm keine Feuersteine.«
»Ich wünschte mir, daß die ganze Welt so aussähe«, meinte Alvin.
»Weißer Junge, wenn du meinem Bruder lange genug zuhörst, wirst du glauben, daß sie es tut. Nein, verteidige ihn nicht. Er geht seinen Weg, und ich gehe den meinen. Ich glaube, daß auf seinem Weg mehr Menschen ums Leben kommen werden, Rote wie Weiße, als auf meinem.«
In der Nacht träumte Alvin. Er sah sich, wie er um den ganzen Achtgesichtigen Hügel schritt, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der ein Pfad den steilen Hang hinaufführte. Dann kletterte er hinauf und erreichte den Gipfel. Die silberblättrigen Bäume schwankten im sanften Wind und blendeten ihn, als das Licht der Sonne sich in ihnen spiegelte. Er schritt auf einen der Bäume zu und erblickte darin das Nest eines Kardinalvogels. Jeder Baum besaß ein einziges Kardinalvogelnest.