Bis auf einen. Der war anders als die anderen. Er war älter, knorriger, mit Ästen, die sich nicht nach oben, sondern in die Breite ausdehnten wie bei einem Obstbaum. Und die Blätter waren aus Gold, nicht aus Silber, so daß sie nicht so hell leuchteten; aber sie waren weich und schimmerten. Im Baum erblickte er runde weiße Früchte und wußte, daß sie reif waren. Doch als er danach griff, um eine zu essen, hörte er Gelächter und Gejohle. Er blickte sich um und sah alle Menschen, die er je in seinem Leben kennengelernt hatte, und sie lachten ihn aus. Bis auf einen — Geschichtentauscher. Er stand da und sagte: »Iß.« Und Alvin pflückte eine Frucht vom Baum, dann führte er sie an die Lippen und biß hinein. Sie war saftig und fest, und der Geschmack war süß, bitter, salzig und sauer zugleich, so kräftig, daß ihn ein Prickeln durchschoß — aber gut, ein Geschmack, den er für immer behalten wollte.
Gerade wollte er einen zweiten Biß nehmen, als er sah, daß die Frucht aus seiner Hand verschwunden war und nun am Baum keine einzige Frucht mehr hing. »Im Augenblick brauchst du nur einen Bissen«, sagte Geschichtentauscher. »Merke dir, wie sie schmeckt.«
»Das werde ich nie vergessen«, antwortete Alvin.
Die anderen lachten noch immer, lauter denn je, doch Alvin beachtete sie nicht. Er hatte von der Frucht gekostet, und alles, was er jetzt noch wollte, war, seine Familie zum selben Baum zu führen und sie davon essen zu lassen; alle, die er je kennengelernt hatte, hierherzuführen, ja selbst Fremde, um sie davon kosten zu lassen. Wenn sie davon nur kosteten, dachte Alvin, würden sie wissen.
»Was würden sie wissen?« fragte Geschichtentauscher.
Alvin fiel es nicht ein. »Einfach wissen«, sagte er. »Alles wissen. Alles, was gut ist.«
»Das ist richtig«, meinte Geschichtentauscher. »Nach dem ersten Bissen weiß man.«
»Und was ist mit dem zweiten?«
»Nach dem zweiten Bissen lebt man ewig«, antwortete Geschichtentauscher. »Und das ist etwas, was du lieber gar nicht erst ins Auge fassen solltest, mein Junge. Bilde dir niemals ein, du könntest ewig leben.«
Am Morgen erwachte Alvin mit dem Geschmack der Frucht im Mund. Er mußte sich dazu zwingen, daran zu glauben, daß es nur ein Traum gewesen war. Ta-Kumsaw war bereits aufgestanden. Er schürte ein kleines Feuer und hatte zwei Fische aus dem Licking River herbeigerufen. Nun staken Holzspieße in ihren Mäulern. Einen Fisch reichte er Alvin.
Doch Alvin wollte nicht essen. Denn dann würde es den Geschmack der Frucht aus seinem Mund vertreiben. Dann würde er anfangen zu vergessen, wo er sich doch erinnern wollte. Gewiß, er wußte, daß er irgendwann wieder etwas essen mußte — man konnte ziemlich dünn werden, wenn man die ganze Zeit das Essen verweigerte. Aber hier und heute wollte er nichts essen.
Doch hielt er den Spieß fest und sah zu, wie die Forelle brutzelte. Ta-Kumsaw sprach und erzählte ihm davon, wie man Fische und andere Tiere herbeirief, wenn man Nahrung brauchte. Man bat sie zu kommen. Wenn das Land wollte, daß man aß, kamen sie; vielleicht kam aber auch ein anderes Tier, das war nicht wichtig, man aß einfach nur, was das Land einem gab. Alvin dachte über den Fisch nach, den er gerade briet. Wußte das Land denn nicht, daß er heute morgen nichts essen würde? Oder hatte es ihm diesen Fisch geschickt, um ihm zu sagen, daß er doch etwas essen müsse?
Es war weder das eine noch das andere. Denn kurz bevor die Fische fertig waren, hörten sie ein Krachen und Stampfen, das ihnen verriet, daß sich ein Weißer näherte.
Ta-Kumsaw saß völlig still da, zückte aber nicht einmal sein Messer. »Wenn das Land einen weißen Mann hierher führt, dann ist er nicht mein Feind«, sagte Ta-Kumsaw.
Wenige Sekunden später trat der weiße Mann auf die Lichtung. Dort, wo er noch nicht kahl war, war sein Haar weiß. Er trug einen Hut. Über seine Schulter hatte er einen schlaff aussehenden Beutel geschlungen; er trug keinerlei Waffen. Alvin wußte sofort, was sich in dem Beutel befand. Ein paar Kleider zum Wechseln, etwas Nahrung und ein Buch. Ein Drittel des Buchs bestand aus einzelnen Sätzen, von Menschen geschrieben, die damit das Wichtigste festgehalten hatten, das sie mit eigenen Augen gesehen hatten. Zwei Drittel des Buchs jedoch waren mit einem Lederriemen versiegelt. Darin schrieb Geschichtentauscher seine eigenen Geschichten, jene, die er glaubte und für wichtig hielt.
Denn der Weiße war Geschichtentauscher, den Alvin nie in seinem Leben wiederzusehen geglaubt hatte. Und als er diesen alten Freund plötzlich erblickte, wußte Alvin auch, warum gleich zwei Fische Ta-Kumsaws Ruf gefolgt waren. »Geschichtentauscher«, sagte Alvin. »Ich hoffe, daß Ihr hungrig seid, denn ich habe hier einen Fisch, den ich für Euch gebraten habe.«
Geschichtentauscher lächelte. »Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, Alvin, und ich bin auch sehr dankbar für diesen Fisch.«
Alvin reichte ihm den Spieß. Geschichtentauscher setzte sich ins Gras, Alvin und Ta-Kumsaw gegenüber auf der anderen Seite des Feuers. »Recht vielen Dank auch, Alvin«, sagte Geschichtentauscher. Er holte sein Messer hervor und begann damit, Scheiben von dem Fisch abzuschälen. Sie zischten, als sie seine Lippen berührten, doch er schmatzte nur und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ta-Kumsaw verzehrte ebenfalls seinen Fisch, und Alvin beobachtete beide. Ta-Kumsaw wandte den Blick keine Minute von Geschichtentauscher ab.
»Das ist Geschichtentauscher«, erklärte Alvin. »Der Mann, der mir das Heilen beigebracht hat.«
»Ich habe es dir gar nicht beigebracht«, widersprach Geschichtentauscher. »Ich habe dir nur eine Vorstellung davon gegeben, wie du es dir selbst beibringen könntest. Und ich habe dich dazu überredet, es zu versuchen.« Den nächsten Satz richtete Geschichtentauscher an Ta-Kumsaw. »Er war doch fest dazu entschlossen, lieber zu sterben, als seine Fähigkeit dazu zu benutzen, sich selbst zu heilen, könnt Ihr das glauben?«
»Und das hier ist Ta-Kumsaw«, stellte Alvin vor.
»Oh, das wußte ich sofort, als ich Euch sah. Wißt Ihr überhaupt, welch eine Legende Ihr unter den Weißen seid? Ihr seid wie Saladin während des Kreuzzugs — sie bewundern Euch mehr als ihre eigenen Führer, obwohl sie wissen, daß Ihr geschworen habt, so lange zu kämpfen, bis Ihr den letzten weißen Mann aus Amerika vertrieben habt.«
Ta-Kumsaw antwortete nicht.
»Ich bin vielleicht zwei Dutzend Kindern begegnet, die auf Euren Namen getauft wurden, die meisten von ihnen waren Jungen, und es sind alles Weiße. Und die Geschichten… wie Ihr weiße Gefangene vor dem Feuertod gerettet habt, wie Ihr den Leuten, die Ihr aus ihrem Heim vertrieben habt, Nahrung brachtet, damit sie nicht verhungerten. Manche dieser Geschichten glaube ich sogar.«
Ta-Kumsaw war mit seinem Fisch fertig und legte den Spieß ins Feuer.
»Ich habe auch eine Geschichte gehört, als ich hierher kam, wie Ihr zwei Weiße aus Vigor Church gefangengenommen und ihren Eltern Ihre blutbefleckten Kleider geschickt habt. Wie Ihr sie zu Tode gemartert habt, um zu zeigen, daß Ihr jeden Weißen vernichten wollt — Mann, Frau, Kind. Wie ihr gesagt habt, daß Ihr nun jeden weißen Mann aus Amerika vertreiben wollt.«
Zum ersten Mal seit Geschichtentauschers Ankunft ergriff Ta-Kumsaw das Wort. »Und habt Ihr diese Geschichte auch geglaubt?«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Geschichtentauscher. »Aber das lag daran, daß ich die Wahrheit bereits kannte. Wißt Ihr, ich habe nämlich eine Nachricht von einem Mädchen erhalten, die ich kannte — inzwischen ist sie eine junge Dame geworden.« Er holte einen zusammengefalteten Brief aus seiner Rocktasche, drei Blätter Papier, die mit Schrift bedeckt waren. Er reichte sie Ta-Kumsaw.
Ohne ihn anzuschauen, gab Ta-Kumsaw den Brief an Alvin weiter. »Lies ihn mir vor«, sagte er.