Er führte sie den Weg entlang, bis sie an einen steilen Hügel gelangten, der dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsen war. Es war kein Pfad zu sehen. »Das ist das Gesicht des roten Mannes«, erklärte Ta-Kumsaw. »Hier steigt der rote Mann empor. Der Pfad ist fort. Hier kannst du nicht hinaufsteigen.«
»Wo dann?« fragte Alvin.
»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Ta-Kumsaw. »Es heißt, daß man immer einen anderen Hügel vorfindet, je nachdem, von welcher Seite man ihn besteigt. Es wird erzählt, daß man die uralte Stadt der Erbauer auf dem Hügel findet, wenn man das Gesicht der Erbauer besteigt. Klettert man am Tiergesicht hoch, so gelangt man in ein Land, wo ein Riesenbüffel als König herrscht, ein seltsames Tier mit Hörnern, die ihm aus dem Maul hervortreten, und einer Nase wie eine schreckliche Schlange; und riesige Berglöwen mit Zähnen, so lang wie Speere; und alle verneigen sich vor ihm und verehren ihn. Wer weiß, ob diese Geschichten stimmen? Heute erklimmt niemand mehr diese Gesichter.«
»Gibt es auch ein Gesicht des weißen Mannes?« fragte Alvin.
»Es gibt das Gesicht des roten Mannes, das Gesicht der Erbauer, das Tiergesicht. Von vier weiteren Gesichtern kennen wir die Namen nicht«, antwortete Ta-Kumsaw. »Vielleicht ist eines davon das Gesicht des weißen Mannes. Kommt.«
Er führte sie um den Hügel. Der ragte steil zu ihrer Linken empor. Nirgendwo war ein Pfad zu sehen. Alvin erkannte alles, was sie erblickten. Sein Traum aus der vergangen Nacht war wahr gewesen, zumindest insoweit, als Geschichtentauscher bei ihm war und er um den Hügel herumwanderte, bevor er ihn erstieg.
Sie gelangten zum letzten der unbekannten Gesichter. Kein Pfad. Alvin wollte zum nächsten weiter.
»Das hat keinen Zweck«, wandte Ta-Kumsaw ein. »Keines der acht Gesichter wird uns nach oben führen. Das nächste ist wieder das Gesicht des roten Mannes.«
»Ich weiß«, antwortete Alvin, »aber da liegt doch der Pfad!«
Und dort lag er tatsächlich. Genau auf der Grenze zwischen dem Gesicht des roten Mannes und dem unbekannten daneben.
»Du bist wirklich ein halber Roter«, meinte Ta-Kumsaw.
»Geh schon hoch«, forderte Geschichtentauscher ihn auf.
»In meinem Traum wart Ihr aber zusammen mit mir dort oben«, widersprach Alvin.
»Das mag sein«, meinte Geschichtentauscher. »Aber Tatsache ist, daß ich diesen Pfad, von dem ihr beide sprecht, nicht erkennen kann. Für mich sieht das hier genauso aus wie alle anderen Seiten auch. Deshalb schätze ich, daß ich wohl nicht eingeladen bin.«
»Geh«, befahl Ta-Kumsaw. »Beeile dich.«
»Dann kommt Ihr mit«, erwiderte Alvin. »Ihr seht doch den Pfad, nicht wahr?«
»Ich träume nicht vom Hügel«, lehnte Ta-Kumsaw ab. »Und was du hier schauen wirst, wird zur einen Hälfte das sein, was der rote Mann sieht, und zur anderen Hälfte ein neuer Ort, den ich niemals schauen sollte. Geh jetzt, vergeude keine Zeit mehr. Das Leben meines und deines Bruders wird davon abhängen.«
»Ich bin durstig«, sagte Al.
»Trinke dort«, antwortete Ta-Kumsaw. »Falls der Hügel dir Wasser anbietet. Und iß, wenn der Hügel dir Nahrung anbietet.«
Also machte sich Al auf den Weg und kletterte den Hügel hinauf. Der Hügel war steil, aber er konnte sich an Wurzeln festhalten, und schon bald hatte der Pfad den Gipfel erreicht.
Alvin hatte geglaubt, daß es sich um einen einzigen Hügel mit acht Hängen handelte. Nun jedoch konnte er sehen, daß jeder der acht Hänge ein eigener Hügel für sich war und zwischen ihnen eine tiefe Mulde lag. Das Tal wirkte viel zu groß, der Hügel gegenüber war viel zu weit entfernt. Aber hatte Alvin nicht heute morgen zusammen mit Ta-Kumsaw und Geschichtentauscher den ganzen Hügel umrundet? Vorsichtig stieg er den grasbewachsenen Hang hinunter. Als er schließlich unten im Tal angekommen war, befand er sich am Rande eines Grasstücks, auf dem Bäume mit silbernem Laub wuchsen, genau wie in seinem Traum. Doch wie sollte er hier Measure finden und heilen? Was hatte der Hügel überhaupt damit zu tun? Inzwischen war es Nachmittag, sie hatten so lange gebraucht, um den Hügel zu umwandern — möglicherweise lag Measure bereits im Sterben, und er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, ihm zu helfen.
Es fiel ihm nichts anderes ein als weiterzugehen. Eigentlich wollte er das Tal durchqueren und einen der anderen Hügel erforschen. Doch seltsam: So weit er auch gehen mochte, so viele silbrig belaubte Bäume er auch hinter sich ließ, der Hügel, auf den er zuging, blieb immer gleich weit entfernt. Das machte ihm angst — würde er möglicherweise für alle Zeiten hier oben gefangen bleiben? —, und er eilte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Schon nach wenigen Minuten erreichte er die Stelle, an der seine Fußspuren den Hang hinunterführten. Ganz gewiß war er doch sehr viel weitergegangen! Einige weitere Versuche überzeugten ihn davon, daß das Tal in alle Richtungen unendlich weit fortführte bis auf jene, aus der er gekommen war. In dieser Richtung sah es so aus, als befände er sich stets im Mittelpunkt, so weit er auch fortgehen mochte.
Alvin hielt Ausschau nach dem goldbelaubten Baum mit den reinen weißen Früchten, doch er konnte ihn nicht ausmachen, was ihn allerdings auch nicht überraschte. Noch immer hatte er den Geschmack der Frucht aus seinem Traum im Mund. Er würde sie weder im Wach- noch im Traumzustand jemals wieder zu kosten bekommen, weil der zweite Bissen ihn ewig würde leben lassen. Es machte ihm nicht viel aus, diesen zweiten Bissen nicht zu bekommen. Einem Jungen seines Alters war der Tod noch nicht sehr nahe.
Er hörte Wasser. Ein Bach, klares kaltes Wasser, das schnell über Steine strömte. So etwas war natürlich unmöglich. Das Tal des Achtgesichtigen Hügels war völlig eingeschlossen. Wenn das Wasser hier so schnell strömte, weshalb füllte sich das Tal dann nicht, bis es zu einem See geworden war? Und woher sollte so ein Strom überhaupt kommen? Der Hügel war von Menschenhand erschaffen, wie alle anderen Hügel im Land, obwohl keiner von ihnen so alt war wie dieser. Aus Hügeln, die von Menschenhand erschaffen waren, traten keine Bäche hervor. Dieses Wasser machte ihn mißtrauisch. Andererseits waren ihm schon manche unmögliche Dinge im Leben widerfahren.
Ta-Kumsaw hatte ihm gesagt, er solle trinken, wenn der Hügel ihm Wasser anböte, also kniete er nieder und trank, wobei er das Gesicht voll ins Wasser stieß und es mit dem Mund aufsaugte. Es vertrieb den Geschmack der Frucht nicht. Tatsächlich war er danach eher noch stärker.
Alvin kniete an der Uferböschung nieder und betrachtete das gegenüberliegende Ufer. Dort floß das Wasser anders. Tatsächlich schwappte es ans Ufer wie Meereswellen, und als ihm dieser Gedanke gekommen war, meinte Alvin zu erkennen, daß die Form des gegenüberliegenden Ufers genauso aussah wie die Landkarte der Ostküste, die Brustwehr-Gottes ihm einmal gezeigt hatte. Klar und deutlich kehrte die Erinnerung wieder. Dort, wo die Küste sich nach außen bog, war Carolina in den Kronkolonien. Die tiefe Bucht dort hinten war das Chase-a-bick, und hier vorne war die Mündung des Potty-Mack, der die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und den Kronkolonien bildete.
Alvin erhob sich und trat über den Bach.
Es war einfach nur Gras. Er schaute keine Flüsse oder Städte, keine Grenzen, keine Wege. Doch von der Küste aus konnte er ziemlich genau spüren, wo das Hio-Land war und wo sich dieser Hügel hier befand. Er machte zwei Schritte vorwärts und er blickte plötzlich Ta-Kumsaw und Geschichtentauscher, die vor ihm auf dem Boden saßen und ihn völlig überrascht ansahen.
»Ihr seid also doch noch heraufgeklettert«, sagte Alvin.
»Nichts dergleichen«, widersprach Geschichtentauscher. »Wir sind die ganze Zeit hiergeblieben, seitdem du fortgegangen bist.«
»Warum bist du wieder zurückgekommen?« fragte Ta-Kumsaw.
»Aber ich bin doch überhaupt nicht zurückgekommen«, antwortete Alvin. »Ich befinde mich hier unten im Hügeltal.«