»Im Tal?« fragte Ta-Kumsaw.
»Wir sind hier unterhalb des Hügels«, bemerkte Geschichtentauscher.
Dann begriff Alvin alles. Nicht so gut, als daß er es hätte in Worte kleiden können, aber gut genug, um zu nutzen, was der Hügel ihm beschert hatte. Er konnte auf diese Weise durch das Land reisen, hundert Meilen mit einem Schritt, um die Menschen aufzusuchen, die er aufsuchen mußte. Die Menschen, die er kannte. Wie Measure zum Beispiel. Alvin grüßte die beiden auf ihn wartenden Männer, indem er die Hand grüßend an die Stirn legte, dann machte er einen kleinen Schritt — und sie verschwanden.
Es war ihm ein leichtes, Vigor Church aufzuspüren. Der erste Mensch, der er erblickte, war Brustwehr-Gottes, der gerade auf den Knien betete. Alvin sprach ihn nicht an, denn er fürchtete, daß Brustwehr ihn möglicherweise für die Erscheinung eines Toten halten würde. Doch wo befand sich Brustwehr gerade? Zu Hause? In diesem Fall mußte sich Vinegar Reileys Farm ein Stück in die andere, entgegengesetzte Richtung befinden, östlich der Stadt. Er drehte sich um.
Da sah er seinen Vater, der neben Mutter saß. Pa schmirgelte gerade einige Musketenkugeln glatt, die er gegossen hatte, und Ma flüsterte auf ihn ein. Sie war zornig, und Pa war es auch. »Frauen und Kinder, die leben in dieser Stadt dort! Selbst wenn der Prophet und Ta-Kumsaw unsere Jungen getötet haben sollten, diese Frauen und Kinder dort haben es nicht getan. Du bist auch nicht besser als sie, wenn du ihnen auch nur ein Haar krümmst. Wenn du auch nur einen dieser Menschen dort tötest, dann werde ich dich nie wieder in dieses Haus einlassen, dann werde ich dich nie wiedersehen. Das schwöre ich dir, Alvin Miller!«
Pa polierte weiter, nur kurz hielt er inne, um zu sagen: »Sie haben meine Jungen getötet.«
Alvin wollte antworten, er öffnete den Mund, um zu sagen: »Aber ich bin doch gar nicht tot, Pa!«
Doch es ging nicht. Er brachte kein Wort heraus. Er war auch nicht hierhergeführt worden, um seinen Eltern eine Vision zu bescheren. Measure war es, den er suchen mußte, sonst würde Pas eigene Kugel den leuchtenden Mann töten.
Es war nicht weit, kein ganzer Schritt. Alvin schob die Füße nur wenige Zoll vor, worauf Ma und Pa verschwanden. Kurz erblickte er Calm und David, die ihre Gewehre abfeuerten — wahrscheinlich übten sie schießen. Und Wastenot und Wantnot, die Schrot in den Lauf einer Kanone stopften. Und endlich schaute er Measure.
Sein Bruder mußte tot sein. Allen Anschein nach war sein Genick gebrochen, und seine Arme und Beine waren auch völlig zerschmettert. Alvin blieb stehen und schickte seinen Funken in den Körper seines Bruders hinein, der vor ihm am Boden lag.
Nie im Leben hatte Alvin solchen Schmerz erlebt. Es war nicht Measures Schmerz, es war sein eigener. Es war Alvins Gespür dafür, wie die Dinge sein sollten, sein Gespür für die rechte Gestalt der Dinge; im Inneren von Measures Körper war nichts heil. Teile von ihm waren abgestorben, das Blut staute sich in seinem Bauch, sein Hirn war nicht mehr mit dem Körper verbunden, es war das schrecklichste Durcheinander, das Alvin je gesehen hatte; alles war falsch, so falsch, daß es ihn schmerzte, es auch nur mit anzusehen, ein Schmerz, der so stechend war, daß er aufschreien mußte. Doch Measure hörte ihn nicht. Measure konnte nicht mehr hören. Wenn Measure vielleicht auch nicht tot sein mochte, so war der Tod doch nur noch einen halben Zoll von ihm entfernt.
Als erstes erspürte Alvin das Herz. Es pumpte noch, aber in den Adern strömte nicht mehr viel Blut. Das war das erste, was Alvin richten mußte, er mußte die Blutbahnen heilen und das Blut wieder dort hinbringen, wo es hingehörte, es mußte durch seine ihm vorbestimmten Kanäle strömen.
All das brauchte Zeit. All die gebrochenen Rippen, die aufgerissenen Organe. All die Knochen, die aneinandergefügt werden mußten, ohne daß auch nur eine helfende Hand dagewesen wäre, um etwas an die richtige Stelle zu rücken — manche der Knochen saßen so schief, daß er sie nicht aus eigener Kraft richten und heilen konnte. Er mußte warten, bis Measure erwachte, um ihm zu helfen.
Also drang Alvin in Measures Gehirn ein, in die Nerven, die seine Wirbelsäule hinabliefen, und heilte es alles, machte es wieder so, wie es sein mußte.
Measure erwachte mit einem langen, entsetzlichen Schrei der Qual. Er lebte, und der Schmerz war zu ihm zurückgekehrt, schärfer und deutlicher als je zuvor. Es tut mir leid, Measure. Ich kann dich nicht heilen, ohne den Schmerz zurückzuholen. Und ich muß dich unbedingt heilen, sonst müssen viel zu viele unschuldige Menschen sterben.
Alvin bemerkte nicht einmal, daß die Nacht bereits angebrochen war und daß die Hälfte der Arbeit noch vor ihm lag.
14. Tippy-Canoe
In Prophetstown schliefen in dieser Nacht nur die Kinder. Die Erwachsenen fühlten alle, wie die Armee der Weißen sie einkreiste; für das Landgespür der Roten waren die von den Weißen ausgeworfenen Tarnungs- und Versteckzauber deutlicher als Trompeten und Fahnenbanner.
Nun, da der Tod aus Eisen und Feuer nicht mehr weit entfernt war, fanden nicht alle mehr den Mut, um ihrem Eid zu gehorchen. Doch in gewissem Ausmaß hielten auch sie diesen Eid. Sie versammelten ihre Familien und schlüpften aus Prophetstown hinaus, zogen lautlos an Kompanien weißer Soldaten vorbei, die sie weder hörten noch sahen. Da sie wußten, daß sie nicht sterben konnten, ohne sich zu verteidigen, verließen sie die Stadt, damit nicht ein einziger Roter den Eid des Propheten befleckte, sich im Kampf zu wehren.
Tenskwa-Tawa war nicht überrascht, daß einige ihn verließen; es überraschte ihn vielmehr, daß so viele blieben. Fast alle. So viele, die an ihn glaubten, so viele, die dieses Vertrauen mit ihrem Blut unter Beweis stellen würden. Er fürchtete sich vor dem Morgen; schon der Schmerz eines einzigen Mordes, der in seiner unmittelbaren Nähe geschehen war, hatte ihn viele Jahre lang mit dem Fluch des schwarzen Geräusches heimgesucht. Gewiß, es war sein Vater gewesen, der da gestorben war, so daß der Schmerz noch schlimmer gewesen war; doch liebte er das Volk von Prophetstown etwa weniger, als er seinen Vater geliebt hatte?
Und doch mußte er das schwarze Geräusch abwehren, mußte bei klarem Verstand bleiben, sonst würde ihr Tod vergeblich sein. Wenn ihr Sterben nichts bewirken konnte, würde er sie nicht zum Tod bewegen. So viele Male hatte er den Kristallturm erforscht, hatte nach einer Möglichkeit gesucht, diesem Tag zu begegnen, nach einem Pfad, der in etwas Gutem endete. Die beste Lösung, die er gefunden hatte, bestand darin, das Land zu teilen, damit die Roten westlich des Mizzipy lebten und die Weißen östlich des Flusses. Doch selbst dies ließ sich nur durch eine gefährliche Gratwanderung erreichen. Zuviel hing dabei von dem weißen Jungen ab, von Tenskwa-Tawa, ja von dem weißen Mörder Harrison selbst. Denn auf allen Pfaden, auf denen Harrison auch nur die geringste Gnade walten ließ, trug das Massaker von Tippy-Canoe nichts dazu bei, um die Vernichtung der Roten aufzuhalten und mit ihr die Vernichtung des Landes. Auf all diesen möglichen Zukunftspfaden würde der rote Mann immer kleiner werden, würden die Roten in winzige Reservate eingesperrt werden, bis das ganze Land weiß geworden und brutal unterworfen worden war, aufgerissen und geplündert und vergewaltigt, bis es riesige Mengen an Nahrung hervorbrachte, die nur eine Imitation der wirklichen Ernten waren, durch die Verschlagenheit der Alchimie zu falschem Leben verlockt. Sogar der weiße Mann selbst mußte in diesen Visionen der Zukunft leiden, doch es würde noch viele Generationen dauern, bis er erkannte, was er getan hatte. Und doch gab es hier — hier in Prophetstown — einen Tag, da die Zukunft auf einem zwar unwahrscheinlicheren, aber besseren Pfad gelenkt werden konnte. Auf einen Pfad, der doch noch zu einem lebendigen Land führen würde, auch wenn es verstümmelt war; der eines Tages zu einer Kristallstadt führte, die das Sonnenlicht einfing und es für alle, die in ihr lebten, in Visionen der Wahrheit verwandelte.