»Deine Rippen«, sagte Alvin. »Sie stehen hervor. Du mußt sie wieder an die richtige Stelle zurückdrücken.«
Measure drückte an einer und wäre vor Schmerz fast wieder in Ohnmacht gefallen. »Das kann ich nicht.«
»Du mußt es tun.«
»Sorg dafür, daß es nicht weh tut.«
»Measure, ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Jedenfalls nicht so, daß du dich dann auch noch bewegen kannst. Du mußt es durchstehen. Alles, was du wieder an die richtige Stelle bringst, kann ich richten, aber dann wird es auch nicht mehr weh tun, aber zunächst mußt du es zurechtlegen, du mußt einfach!«
»Tu du es doch.«
»Ich kann es nicht, Measure, weil ich nicht hier bin.«
Das ergab für Measure keinen Sinn. Vielleicht träumte er ja nur. Aber Alvin ließ sich nicht abschütteln. Also drückte Measure. Es tat fürchterlich weh, doch Alvin hielt Wort. Kurz darauf schmerzte die behandelte Stelle nicht mehr.
Es dauerte alles so lang. Der Schmerz schien nicht mehr enden zu wollen. Doch zwischendurch, während Alvin die einzelnen Knochen heilte, erklärte Measure ihm, was gesehen war, und Alvin erzählte ihm, was er wußte, und schon bald begriff Measure, daß es hier um noch sehr viel mehr ging als darum, das Leben eines jungen Mannes in einem Kartoffelkeller zu retten.
Endlich, endlich war es vorbei. Measure konnte es kaum glauben. Er hatte so lange unter Schmerzen gelitten, daß es schon richtig seltsam geworden war, keine Schmerzen mehr zu empfinden.
Er hörte das Donnern, das Donnern von feuernden Kanonen. »Hörst du das, Alvin?« fragte er.
Alvin konnte es nicht hören.
»Die Schießerei hat angefangen. Die Kanonen.«
»Dann lauf, Measure! Lauf so schnell du kannst!«
»Alvin, ich befinde mich in einem Kartoffelkeller. Die haben die Tür verriegelt.«
Alvin fluchte und benutzte dabei einige Worte, von denen Measure nicht geglaubt hätte, daß der Junge sie überhaupt jemals gehört hatte.
»Alvin, da hinten habe ich einen halben Tunnel ausgegraben. Du kommst doch so gut mit Gestein zurecht. Vielleicht könntest du die Erde dort für mich etwas lockern, dann könnte ich mich sehr schnell ins Freie vorgraben.«
Und so funktionierte es auch. Measure ließ sich ins Loch rollen und schloß einfach die Augen, dann krallte er die Hände ins Erdreich über seinem Kopf. Es war völlig anders als am Vortag, als er sich die Finger wundgescheuert hatte. Jetzt glitt alles nur so unter seinen Fingern davon; und unter seinen Füßen wurde die Erde wieder fest.
Ich schwimme durch die Erde, so ist das, dachte er, und er begann zu lachen, so leicht und so seltsam war alles.
Sein Lachen verstummte, als er auf der Oberfläche angekommen war. Nun befand er sich direkt hinter dem Keller. Der Himmel war schon ziemlich hell, es würde nur noch wenige Minuten dauern, bis die Sonne aufging. Der Kanonendonner war verstummt. Bedeutete das etwa, daß es schon zu spät war? Aber vielleicht ließen sie ja auch nur die Rohre auskühlen. Oder sie bewegen die Kanonen an eine andere Stelle. Vielleicht war es den Roten aber auch sogar gelungen, die Kanonen zu erbeuten…
Doch wäre das wirklich eine gute Nachricht? Ob sie im Recht waren oder nicht, seine Brüder und sein Vater befanden sich bei diesen Kanonen, und wenn die Roten diese Schlacht gewinnen sollten, würden einige von ihnen möglicherweise sterben. Er mußte die Schlacht aufhalten, und so rannte er, rannte, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte. Alvins Stimme war inzwischen verstummt, doch Measure bedurfte keiner Ermutigung mehr. Er flog förmlich den Weg entlang.
Unterwegs begegneten ihm zwei Leute. Mrs. Hatch, die gerade mit ihrem Wagen die Straße entlangkam, um Vorräte zu bringen, erblickte Measure, kreischte auf — immerhin trug er ja einen Lendenschurz und war so schmutzig, wie man es sich nur vorstellen konnte, kein Wunder, daß sie ihn für einen Roten hielt, der sie skalpieren wollte. Measure konnte nicht einmal mehr ihren Namen rufen, so schnell war sie vom Wagen gesprungen. Aber das paßte ihm gut. Er riß das Pferd aus seinem Geschirr, und dann ritt er schon auf dem Tier, galoppierte den Weg entlang und hoffte nur, daß das Pferd nicht stolpern und ihn abwerfen würde.
Die zweite Person, die er auf dem Weg traf, war Brustwehr-Gottes. Brustwehr kniete mitten auf der Gemeindewiese vor seinem Geschäft und betete sich das Herz aus dem Leib, während die Kanonen brüllten und die Musketen ihre Kugeln über den Fluß schickten. Measure rief ihm etwas zu, und Brustwehr sah ihn an, als hätte er soeben den wiederauferstandenen Jesus erblickt. »Measure!« rief er. »Halt, halt!«
Measure wollte eigentlich weiter, wollte sagen, daß er keine Zeit habe, doch da war Brustwehr auch schon mitten auf den Weg gesprungen.
»Measure, seid Ihr ein Engel oder seid Ihr noch am Leben?«
»Ich bin noch am Leben, aber nicht dank Harrison. Der hat versucht mich zu ermorden. Ich bin noch am Leben und Alvin auch. Alles war Harrisons Schuld, und ich muß ihm ein Ende setzen.«
»Nun, so könnt Ihr jedenfalls nicht gehen«, meinte Brustwehr. »Wartet, habe ich gesagt! Ihr könnt dort nicht einfach in einem Lendenschurz erscheinen, über und über mit Schmutz bedeckt, da halten die Euch doch für einen Roten und erschießen Euch auf der Stelle!«
»Dann springt hinter mir aufs Pferd und gebt mir unterwegs Eure Kleider!«
Also hob Measure Brustwehr-Gottes hinter sich aufs Pferd, und gemeinsam ritten sie zur Furt hinüber.
Peter Ferrymans Frau betätigte dort gerade die Winde. Es genügte ihr, einen Blick auf Measure zu werfen, um zu wissen, was zu tun war. »Beeilt Euch«, sagte sie. »Es ist schlimm! Der Fluß färbt sich schon rot.«
An Bord der Fähre streifte Brustwehr seine Kleider ab, während Measure sich im Wasser etwas reinigte. Zwar war er danach nicht sauber, doch wenigstens sah er in etwas wieder aus wie ein Weißer. Immer noch naß, legte er Brustwehrs Hemd und Hose an und dann auch die Weste. Nichts davon paßte ihm besonders gut, weil Brustwehr kleiner war als er, dennoch zog er mit einem Achselzucken die Jacke an. Während er das tat, sagte er: »Es tut mir leid, Euch hier nur in Euren Sommerunterhosen zurücklassen zu müssen.«
»Wenn ich damit dieses Massaker beendeten könnte, würde ich mich den halben Tag lang nackt vor allen Damen in der Kirche aufstellen«, erwiderte Brustwehr-Gottes. Falls er mehr gesagt haben sollte, hörte Measure es jedenfalls nicht mehr, weil er schon auf und davon war.
Nichts lief so, wie Alvin Miller Senior es erwartet hatte. Er hatte sich vorgestellt, daß er mit seiner Muskete auf dieselben kreischenden Wilden schießen würde, die seine Jungen mit Messern bearbeitet und umgebracht hatten. Doch die Stadt war leer, und sie fanden alle Roten auf der Stadtweide vor, als würden sie dort auf eine Predigt ihres Propheten warten. Miller hatte nie gewußt, daß es so viele Rote in Prophetstown gab, weil er sie nicht alle auf einmal an einem Ort gesehen hatte. Aber immerhin waren es doch Rote, nicht wahr? Also feuerte er seine Muskete trotzdem ab, genau wie die anderen Männern, feuerte und lud nach, schaute kaum, ob er überhaupt irgend etwas getroffen hatte. Wie hätte er auch danebenschießen sollen, so eng, wie sie alle nebeneinanderstanden?
Der Blutrausch hatte ihn gepackt, er war wahnsinnig vor Zorn. Er bemerkte nicht, daß einige der anderen Männer sich zu beruhigen begannen. Daß sie plötzlich weniger schossen. Er lud immer nur nach, feuerte und lud nach, jedesmal eine Elle oder zwei weiter vortretend, heraus aus der Deckung des Waldes, hinaus auf die Lichtung; erst als die Kanonen ausgerichtet wurden, stellte er das Schießen ein, machte ihnen Platz, sah er zu, wie sie riesige Schneisen in die Schar der Roten mähten.
Da bemerkte er zum ersten Mal richtig, was mit den Roten geschah, was sie taten und was sie nicht taten. Sie schrien nicht, sie wehrten sich nicht. Sie standen einfach nur da, Männer und Frauen und Kinder, blickten zu den Weißen hinüber, die sie töteten. Kein einziger von ihnen kehrte dem Hagel aus Schrapnellgeschossen auch nur den Rücken zu. Kein Vater, keine Mutter versuchte, ein Kind vor dem Feuersturm zu schützen. Sie standen nur da, warteten und starben.