Die Kartätschen schnitten Breschen in die Menschenmenge. Miller sah die Opfer zu Boden stürzen. Wer es noch konnte, erhob sich wieder oder kniete zumindest nieder, wenn er nicht den Kopf über die Leichenberge hob, um von der nächsten Feuergarbe getötet zu werden.
Was ist denn das, wollen die etwa sterben?
Miller blickte sich um. Er und die Männer, die bei ihm waren, standen in einem Meer von Leichen — sie waren bereits an den äußeren Rand der Rotenschar vorgeschritten. Zu seinen Füßen lag der Leichnam eines Jungen, der kaum älter war als Alvin; lag zusammengerollt da, ein Auge war ihm von einer Musketenkugel aus dem Kopf gerissen worden. Vielleicht war das meine eigene Kugel, dachte Miller. Vielleicht habe ich diesen Jungen getötet.
Während der Pausen zwischen den Kanonensalven konnte Miller Männer rufen hören. Nicht die Roten, nicht die Überlebenden, nein, es waren seine eigenen Nachbarn, weiße Männer, die neben ihm oder hinter der Linie standen. Manche von ihnen sprachen, flehten. Hört auf, sagten sie. Bitte, hört auf!
Bitte, hört auf. Sprachen sie etwa zu den Kanonen? Oder mit den roten Männern und Frauen, die darauf beharrten, stehenzubleiben, die nicht einmal versuchten zu fliehen, die nicht vor Furcht aufschrien? Oder zu ihren Kindern, die sich den Gewehren ebenso tapfer stellten wie ihre Eltern? Oder sprachen sie zu dem grauenhaften, nagenden Schmerz in ihrem eigenen Herzen, als sie sahen, was sie getan hatten, was sie immer noch taten, was sie noch tun würden?
Miller fiel auf, daß das Blut nicht im Gras der Weide versickerte. Es bildete Rinnsale, Bäche, floß in gewaltigen Massen den Weidenhang hinunter in den Tippy-Canoe. Das morgendliche Sonnenlicht dieses strahlenden Tages brach sich in lebhaftem Rot auf dem Wasser des Flusses.
Während er zusah, wurde das Wasser plötzlich so glatt wie Glas. Nun tänzelte das Sonnenlicht darauf, es brach sich wie in einem Spiegel und blendete ihn fast. Doch er konnte einen einzelnen roten Mann sehen, der auf dem Wasser ging, genau wie Jesus in der Bibel.
Nun war es kein bloßes Winseln mehr, was hinter ihm ertönte. Nun war es ein einziger Schrei, dem sich immer mehr Männer anschlössen. Hört auf zu schießen! Hört auf! Legt die Waffen nieder! Und dann andere, die über den Mann sprachen, der auf dem Wasser stand.
Ein Horn ertönte. Die Männer verstummten. »Zeit, sie zu erledigen, Männer!« rief Harrison. Er saß auf einem tänzelnden Hengst, wollte sie den vom Blut schlüpfrig gewordenen Hügel hinabführen. Keiner der Farmer war bei ihm, doch seine uniformierten Soldaten bildeten eine Linie und kamen mit, mit aufgepflanzten Bajonetten. Dort, wo einst zehntausend Rote gestanden hatten, war nur noch ein einziges Feld von Leichen zu sehen, und unten am Fuße des Hügels hatten sich vielleicht tausend Überlebende versammelt.
In diesem Augenblick kam ein großer junger Weißer aus dem Wald am Fuße des Hügels herangelaufen, in einen Anzug gekleidet, der ihm viel zu klein war, mit nackten Füßen, Jacke und Weste nicht zugeknöpft, das Haar naß und zerzaust, das Gesicht schmutzverschmiert und feucht. Doch Miller erkannte ihn schon, noch bevor er seine Stimme gehört hatte.
»Measure!« rief er. »Das ist mein Junge Measure!«
Er warf seine Muskete fort und rannte auf das Leichenfeld hinaus, den Hügel hinab und seinem Sohn entgegen.
»Mein Junge Measure! Er lebt! Du lebst!«
Dann glitt er im Blut aus, vielleicht stolperte er auch über eine Leiche, jedenfalls stürzte er, seine Hände klatschten in einen Fluß von Blut, bespritzten Brust und Gesicht.
Er vernahm Measures Stimme, keine zehn Ellen von ihm entfernt, so laut, daß jeder ihn hören konnte. »Die Roten, die mich gefangen hatten, wurden von Harrison angeheuert. Ta-Kumsaw und Tenskwa-Tawa haben mich gerettet. Als ich vor zwei Tagen nach Hause zurückkehrte, haben Harrisons Soldaten mich gefangengenommen und wollten es nicht zulassen, daß ich euch die Wahrheit sage. Harrison hat sogar versucht, mich umzubringen.« Measure sprach langsam und klar, damit jedes Wort, jedes Geräusch deutlich verstanden wurde. »Die Roten sind unschuldig. Es sind unschuldige Menschen, die ihr hier umbringt.«
Miller erhob sich von dem blutigen Feld und streckte die Arme hoch über den Kopf, dickes Blut rann seine Hände hinab. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, von Qual und Verzweiflung getrieben. »Was habe ich getan! Was habe ich nur getan!« Ein Dutzend, hundert, dreihundert Stimmen wiederholten diesen Schrei.
Und dann ritt General Harrison auf seinem tänzelnden Pferd heran. Sogar seine eigenen Soldaten hatten inzwischen ihre Gewehre fortgeworfen.
»Das ist eine Lüge!« rief Harrison. »Niemals habe ich diesen Jungen gesehen! Irgend jemand hat mich hereingelegt!«
»Er ist nicht hereingelegt worden!« schrie Measure. »Hier ist sein Taschentuch — gestern haben sie es mir in den Mund gestopft, um mich zu knebeln, während sie mir die Knochen brachen!«
Deutlich konnte Miller das Taschentuch in der Hand seines Sohnes erkennen. Die Buchstaben WHH waren in großen, deutlichen Lettern an einem Zipfel eingestickt.
Nun meldeten sich sogar einige von Harrisons eigenen Soldaten zu Wort. »Das ist wahr! Vor zwei Tagen haben wir diesen Jungen zu Harrison gebracht.«
»Wir haben nicht gewußt, daß es einer der Jungen war, von dem es hieß, die Roten hätten ihn getötet!«
Ein schriller Schrei hallte über die Weide. Alle sahen hinunter zu dem einäugigen Propheten, der auf dem festen, roten Wasser des Tippy-Canoe stand.
»Komm zu mir, mein Volk!« sagte er.
Die überlebenden Roten schritten langsam, stetig auf das Wasser zu. Sie schritten über die Wasseroberfläche und versammelten sich auf der anderen Seite.
»Mein ganzes Volk komme zu mir!«
Etwa tausend Verwundete erhoben sich zwischen den Leichenbergen und versuchten, den Strom zu erreichen. Viele von ihnen brachen zusammen und starben, bevor sie dort angelangt waren. Jene, die bis zum Wasser kamen, torkelten, krochen über seine Oberfläche. Die Roten auf der anderen Seite halfen ihnen.
Miller bemerkte etwas Seltsames. Alle diese verwundeten Roten, aber auch alle unverwundeten, alle waren sie über den blutroten Fluß gegangen, und doch klebte an ihren Händen und Füßen nicht ein einziger Blutfleck.
»All mein Volk, alle, die gestorben sind — kommt heim, spricht das Land!«
Um sie herum war die Weide mit Leichen übersät. Bei den Worten des Propheten schienen die toten Körper nun zu erzittern, zu zerbröckeln; sie versanken im Gras der Weide. Es dauerte vielleicht eine Minute, dann waren sie verschwunden, sproß das Gras wieder üppig und grün.
»Komm zu mir, mein Freund Measure.« Der Prophet sagte es leise und streckte die Hand vor.
Measure kehrte seinem Vater den Rücken zu und schritt den grasbewachsenen Abhang bis zur Wasserkante hinunter.
»Schreite zu mir«, sagte der Prophet.
»Ich kann nicht auf dem Blute deines Volkes dahinschreiten«, antwortete er.
»Sie haben ihr Blut gegeben, um dich zu erheben«, sagte der Prophet. »Komm zu mir oder nimm den Fluch auf dich, der auf jeden weißen Mann auf dieser Weide fallen wird.«
»Dann werde ich wohl bleiben«, sagte Measure. »Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, ich glaube kaum, daß ich anders gehandelt hätte, als sie es getan haben. Wenn sie schuldig sind, so bin ich es auch.«
Der Prophet nickte.
Alle weißen Männer spürten etwas Warmes und Feuchtes und Klebriges an den Händen. Einige von ihnen schrien auf, als sie es sahen. Von den Ellenbogen bis zu den Händen troffen sie vor Blut. Manche versuchten, es an ihren Hemden abzuwischen. Einige suchten nach Wunden, die vielleicht bluteten, doch es gab keine Wunden, nur blutige Hände.