Выбрать главу

»Und wo ist der Junge?« fragte Ta-Kumsaw. »Die ganze Nacht hat er auf dem Hügel verbracht, und wo ist er jetzt?« Ta-Kumsaw sprang auf, er richtete sich nach dem Achtgesichtigen Hügel aus. »Niemand verbringt dort die ganze Nacht, und nun ist die Sonne schon aufgegangen und er ist nicht wieder zurückgekehrt.« Abrupt wandte sich Ta-Kumsaw Geschichtentauscher zu. »Er kann nicht herunterkommen.«

»Was meint Ihr damit?«

»Er braucht mich«, erklärte Ta-Kumsaw. »Ich kann es spüren. Eine schreckliche Wunde ist in ihm. Seine ganze Kraft verblutet in die Erde.«

»Was ist dort auf dem Hügel? Was hat ihn verwundet?«

»Wer weiß schon, was ein weißer Junge im Inneren des Hügels findet?« erwiderte Ta-Kumsaw. Dann wandte er sich wieder dem Hügel zu, als spürte er einen neuen Ruf. »Ja«, sagte er, und dann ging er schnell auf den Hügel.

Geschichtentauscher folgte ihm, ohne ein Wort über den Widerspruch des ganzen zu verlieren — den Widerspruch, der darin bestand, daß Ta-Kumsaw geschworen hatte, Krieg gegen die Weißen zu führen, bis alle entweder tot waren oder sein Land verlassen hatten, um dann doch zum Achtgesichtigen Hügel zurückzueilen, um einen weißen Jungen zu retten.

Gemeinsam blieben sie an der Stelle stehen, wo Alvin seinen Aufstieg begonnen hatte.

»Könnt Ihr die Stelle sehen?« fragte Geschichtentauscher.

»Da ist kein Pfad«, antwortete Ta-Kumsaw.

»Aber gestern habt Ihr ihn doch gesehen«, warf Geschichtentauscher ein.

»Gestern gab es auch noch einen Pfad.«

»Dann muß es einen anderen Weg geben«, entschied Geschichtentauscher. »Euren eigenen Weg auf den Hügel.«

»Ein anderer Weg würde mich nicht zur selben Stelle führen.«

»Komm schon, Ta-Kumsaw, der Hügel ist zwar groß, aber doch nicht so groß, daß Ihr dort oben jemanden nicht finden würdet, wenn Ihr nur eine Stunde nach ihm sucht.«

Ta-Kumsaw musterte Geschichtentauscher nur verächtlich.

Eingeschüchtert sprach Geschichtentauscher schon weniger zuversichtlich weiter. »Man muß also immer denselben Weg nehmen, um zum selben Ort zu gelangen?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte Ta-Kumsaw. »Ich habe noch nie davon gehört, daß jemand den Hügel emporgestiegen ist und daß ein anderer ihm auf demselben Pfad gefolgt wäre.«

»Geht ihr denn nie zu zweit oder zu dritt hinauf?«

»Dies ist der Ort, wo das Land zu allen Wesen spricht, die hier leben. Die Sprache des Landes sind das Gras und die Bäume; seine Zier sind die Tiere und Vögel.«

Geschichtentauscher bemerkte, daß Ta-Kumsaw das Englische wie ein weißer Mann beherrschte, wenn er wollte. Nein, wie ein gebildeter Weißer. Zier. Wo hätte er im Hio-Land ein solches Wort lernen können? »Wir können also nicht hinauf?«

Ta-Kumsaws Miene blieb ausdruckslos.

»Nun, ich sage, wir sollten dennoch hinauf. Wir wissen, welchen Weg er genommen hat — also nehmen wir ihn auch, ob wir ihn sehen können oder nicht.«

Ta-Kumsaw antwortete nicht.

»Wollt Ihr etwa nur dastehen und ihn dort oben sterben lassen?«

Zur Antwort trat Ta-Kumsaw einen Schritt vor, so daß er Gesicht an Gesicht — nein, Brust an Brust — vor Geschichtentauscher stand. Ta-Kumsaw packte seine Hand, legte den anderen Arm um Geschichtentauscher, drückte ihn eng an sich. Ihre Beine verworben sich miteinander; ein Außenstehender hätte wohl kaum noch feststellen können, wem welches Bein gehörte. Geschichtentauscher spürte den Herzschlag des roten Mannes, sein Rhythmus wirkte auf Geschichtentauschers Körper gebieterischer als der Schlag seines eigenen heißen Pulses. »Wir sind nicht zwei Männer«, flüsterte Ta-Kumsaw. »Wir sind hier kein Roter und kein weißer Mann, zwischen denen vergossenes Blut fließt. Wir sind ein einziger Mann mit zwei Seelen, einer roten Seele und einer weißen Seele, ein einziger Mann.«

»Also gut«, sagte Geschichtentauscher. »Es soll so geschehen, wie Ihr sagt.«

Ta-Kumsaw hielt Geschichtentauscher immer noch fest, während er sich in der Umarmung drehte; ihre Köpfe preßten sich aneinander, ihre Ohren verschmolzen so eng, daß Geschichtentauscher nichts mehr hören konnte außer Ta-Kumsaws Puls, wie das Hämmern von Meereswellen in seinem Ohr. Doch nun, da ihre Körper so eng miteinander verbunden waren, daß sie beide nur noch einen einzigen gemeinsamen Herzschlag zu kennen schienen, konnte Geschichtentauscher plötzlich deutlich einen Weg erkennen, der den Hang des Hügels hinaufführte.

»Könnt Ihr…«, fing Ta-Kumsaw an.

»Ich sehe ihn«, erwiderte Geschichtentauscher.

»Bleibt weiterhin so dicht bei mir«, gebot Ta-Kumsaw. »Nun sind wir wie Alvin — eine rote Seele und eine weiße Seele in einem einzigen Körper.«

Es war beschwerlich, ja regelrecht albern, zu versuchen, den Hügel auf diese Weise zu besteigen. Doch sobald sie sich beim Aufstieg nur ein wenig voneinander lösten, schien der Pfad sofort wieder beschwerlicher zu werden, versteckte er sich hinter irgendeinem Schlinggewächs, einem Strauch, einem herabhängenden Ast. Also klammerte sich Geschichtentauscher so eng an Ta-Kumsaw, wie der rote Mann sich an ihn klammerte, und zusammen bahnten sie sich einen Weg den Hügel hinauf.

Oben angekommen, stellte Geschichtentauscher zu seiner Überraschung fest, daß sie sich nicht auf dem Gipfel eines einzigen Hügels befanden, sondern vielmehr auf einem Ring aus acht verschiedenen Hügeln, zwischen denen ein achteckiges Tal lag. Ta-Kumsaw war davon ebenso überrascht. Er wirkte verunsichert und hielt Geschichtentauscher nicht mehr ganz so fest.

»Wo würde ein weißer Mann hier hingehen?« fragte Ta-Kumsaw.

»Nach unten, natürlich«, erwiderte Geschichtentauscher. »Wenn ein weißer Mann ein Tal erblickt, geht er hinunter, um nachzusehen, was es dort gibt.«

»Ist das für euch immer so?« fragte Ta-Kumsaw. »Nicht zu wissen, wo ihr seid, wo irgend etwas ist?«

Erst dann erkannte Geschichtentauscher, daß Ta-Kumsaw hier nicht über seinen Landsinn verfügte. An diesem Ort war er ebenso blind wie ein weißer Mann.

»Gehen wir hinunter«, sagte Geschichtentauscher. »Und noch etwas — wir brauchen uns jetzt nicht mehr so fest aneinanderzuklammern. Es ist ein grasbewachsener Hügel, und wir brauchen keinen Weg.«

Sie überquerten einen Bach und fanden den Jungen auf einem Grasstück, dicht hing der Nebel über dem Boden. Alvin war nicht verletzt, doch er lag zitternd da wie im Fieber, obwohl seine Stirn kühl war und sein Atem flach und schnell ging. Wie Ta-Kumsaw gesagt hatte: Er lag im Sterben.

Geschichtentauscher berührte ihn, streichelte ihn, dann schüttelte er ihn; er versuchte, den Jungen zu wecken. Alvin gab kein Anzeichen von sich, daß er sie bemerkte. Ta-Kumsaw war keine Hilfe. Er saß neben dem Jungen und hielt seine Hand, und wimmerte leise.

Doch Geschichtentauscher war kein Mensch, der der Verzweiflung nachgab, falls es das sein sollte, was Ta-Kumsaw tat. Er blickte sich um. In der Nähe stand ein Baum, sein Laub war so gelbgrün, daß es im Licht der Dämmerung wirkte, als sei es aus Blattgold. Am Baum hing eine helle Frucht, nein, es war eine weiße Frucht. Und plötzlich, kaum hatte er sie erblickt, konnte Geschichtentauscher sie riechen, nahm er ihren stechend-süßen Geruch wahr, so daß er sie auch beinahe schmecken konnte. Ohne nachzudenken schritt er auf den Baum zu, pflückte die Frucht, brachte sie zu Alvin zurück, der auf dem Boden lag, wie ein ganz kleines Kind. Geschichtentauscher fuhr mit der Frucht unter Alvins Nase hin und her, damit ihr Dürft wie Riechsalz wirken und ihn wiederbeleben konnte. Plötzlich begann Alvin zu keuchen. Er öffnete die Augen, seine Lippen lösten sich voneinander, und zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen ertönte ein Wimmern, das fast genauso klang wie Ta-Kumsaws; fast wie das Wimmern eines getretenen Hundes.