Cyprien wäre gern umgekehrt, um längs des Seeufers hinzugehen, das Ufer war aber so abschüssig, daß er bald darauf verzichten mußte. Eine Rückkehr auf dem eben zurückgelegten Weg beraubte ihn andererseits auch fast jeder Hoffnung, Matakit wiederzufinden.
Am jenseitigen Ufer erhob sich nun eine Hügelreihe, die sich durch eine Strecke wellenförmigen Landes an ziemlich hohe Berge anschloß. Cyprien hoffte durch Erklimmung eines Gipfels einen allgemeinen Überblick gewinnen und dann einen bestimmten Plan entwerfen zu können.
Li und er brachen also auf, um den See zu umkreisen. Das Fehlen jedes eigentlichen Weges machte das sehr schwierig, vor allem da sie zuweilen genötigt waren, die beiden Giraffen am Zügel nachzuführen. Deshalb brauchten sie wohl über 3 Stunden, um eine Entfernung von 7 bis 8 Kilometern in der Luftlinie zurückzulegen.
Als sie dann endlich auf dem Weg rund um den See etwa an einer ihrem ersten Ausgangspunkt ziemlich genau gegenüberliegenden Stelle anlangten, wurde es schon finster. Erschöpft von der Anstrengung, beschlossen sie zu übernachten. Bei den wenigen ihnen gebliebenen Hilfsmitteln konnte das Lager freilich nur sehr notdürftig ausgestattet werden. Li ließ sich das jedoch mit gewohntem Eifer angelegen sein, und als er damit fertig war, trat er an seinen Herrn heran.
»Väterchen«, begann er mit seiner schmeichelnden und gleichzeitig tröstenden Stimme, »ich sehe, daß Sie sehr ermattet sind. Unser Proviant ist fast gänzlich erschöpft. Lassen Sie mich nach einem Dorf auf Kundschaft gehen, wo man mir Hilfe gewiß nicht verweigern wird.«
»Mich verlassen, Li?« rief zuerst Cyprien.
»Es muß sein, Väterchen!« antwortete der Chinese. »Ich nehme die eine Giraffe und reite nach Norden zu hinauf ... Tonaias Hauptstadt, von der Lopepe uns erzählte, kann nun nicht mehr weit sein, und ich werde alles vorbereiten, daß Sie dort einen guten Empfang finden. Dann kehren wir nach dem Griqualand zurück, wo Sie nichts mehr von solchen Schurken zu fürchten haben werden, wie von den dreien, die im Laufe unserer Reise alle zugrunde gegangen sind !«
Der junge Ingenieur überlegte den Vorschlag, den ihm der ergebene Chinese machte. Er sah einerseits ein, daß, wenn der junge Kaffer wiedergefunden werden könne, es bestimmt in der hiesigen Gegend sein mußte, wo man ihn am Tag vorher gesehen, und daß es wichtig war, diese nicht zu verlassen. Andererseits erschien es höchst notwendig, die allmählich unzureichend werdenden Vorräte zu erneuern. Cyprien entschied sich also, wenn auch zu seinem großen Leidwesen, dafür, sich von Li zeitweilig zu trennen und es wurde dabei abgemacht, daß er diesen 48 Stunden lang an derselben Stelle erwarten werde. In 48 Stunden konnte der auf seiner schnellen Giraffe reitende Chinese eine ziemlich große Wegstrecke zurückgelegt haben und nach dem Lagerplatz zurückgekehrt sein. Nachdem dieser Beschluß gefaßt war, wollte Li auch keine Minute verlieren. Ob er ausruhen konnte oder nicht, das machte ihm keine besondere Sorge. Er war schon imstande, einmal eine Nacht den Schlaf zu übergehen. Er nahm also Abschied von Cyprien, indem er diesem die Hand küßte, holte seine Giraffe, sprang auf und verschwand in der Finsternis.
Zum ersten Mal seit seinem Aufbruch aus der Vander-gaart-Kopje sah Cyprien sich nun allein in der weiten Wüste. Er fühlte sich recht traurig und konnte nicht umhin, sich, nachdem er seine Decke umgeschlagen, den traurigsten Ahnungen zu überlassen. Vereinsamt, fast am Ende mit allen Nahrungsmitteln und mit dem Schießbedarf, was sollte hier im unbekannten Land, mehrere Hundert Meilen von jeder zivilisierten Gegend wohl noch aus ihm werden? Matakit wieder zu treffen, war ja nur eine ziemlich schwache Aussicht. Konnte dieser sich nicht vielleicht einen halben Kilometer von ihm entfernt befinden, ohne daß er dessen Nähe zu mutmaßen vermochte? Wahrhaftig, dieser Zug wurde schwer vom Unglück verfolgt und war schon durch so viele traurige Vorkommnisse ausgezeichnet. Fast jedes Hundert zurückgelegter Meilen hatte einen seiner Mitglieder das Leben gekostet. Nur ein einziger war noch übrig! ... Er selbst! ... War vielleicht auch ihm ein ebenso elender Tod beschieden wie den übrigen?
Solcher Art waren die trüben Reflexionen Cypriens, der aber doch zuletzt dabei einschlief.
Die Morgenfrische und die Ruhe, die er eben genossen hatte, verliehen seinen Gedanken, als er wieder erwachte, eine mehr Hoffnung erweckende Richtung. In Erwartung der Rückkehr des Chinesen beschloß er, den höchsten Hügel zu besteigen, an dessen Fuß sie haltgemacht hatten. Dort konnte er voraussichtlich eine größere Strecke der Umgebung überblicken und vielleicht mit Hilfe seines Fernrohrs gar irgendeine Spur von Matakit entdecken. Um das auszuführen, mußte er sich freilich unbedingt von seiner Giraffe trennen, da bekanntlich noch kein Naturforscher diese Vierfüßler in die Ordnung der Klettertiere versetzt hat.
Cyprien begann also damit, jener die von Li so sinnreich hergestellte Halfter abzunehmen, dann band er einen Stock an das Knie des Tieres und an einen mit dichtem feinen Gras umgebenen Baum, wobei er den Strick so lang hängen ließ, daß jenes nach Belieben Futter suchen konnte. Wenn man die Länge seines Halses der des Stocks hinzurechnete, so ließ gewiß der Umkreis der dem graziösen Tiere gelassenen Weidefläche nichts zu wünschen übrig.
Nach Vollendung dieser Vorbereitungen nahm Cyprien die Büchse auf die eine Schulter, seine Decke auf die andere, und nachdem er sich von der Giraffe mit einem freundlichen Streicheln verabschiedet hatte, begann er die Besteigung des Berges.
Dieser Aufstieg wurde lang und beschwerlich. Der ganze Tag verlief damit, steile Abhänge emporzuklimmen, Felsen oder unübersteigbare Spitzen zu umgehen und von Osten oder Süden her einen von Norden oder Westen fruchtlos gebliebenen Versuch aufs neue anzufangen.
Bei Anbruch der Nacht befand sich Cyprien erst in hal-ber Höhe und mußte die weitere Besteigung bis zum nächsten Tag verschieben.
Mit Tagesanbruch, und nachdem er sich durch scharfes Heruntersehen überzeugt hatte, daß Li noch nicht nach dem Lager zurückgekehrt war, gelangte er endlich gegen 11 Uhr vormittags auf den Gipfel des Berges.
Hier erwartete ihn eine grausame Enttäuschung. Der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt. Dichte Nebelmassen wallten um die unteren Bergwände, und vergeblich bemühte sich Cyprien die Schleier zu durchdringen, um die benachbarten Talmulden zu überblicken. Das ganze Land ringsum verschwand unter dieser Anhäufung unförmiger Dunstmassen, die unter sich nicht das mindeste erkennen ließen.
Cyprien ließ sich nicht abschrecken; er wartete und hoffte noch immer, daß eine Aufklärung ihm gestatten würde, den fernen Horizont, wie er wünschte, absuchen zu können -vergeblich! Je mehr der Tag vorschritt, desto mehr schienen die Wolken an Dichtheit zuzunehmen, und als die Nacht herankam, schlug das Wetter gar noch in Regen um.
Der junge Mann sah sich also von dieser höchst prosaischen Naturerscheinung gerade auf der Höhe dieser kahlen Hochfläche überrascht, die keinen einzigen Baum trug und kein Felsstück zeigte, das einigen Schutz hätte gewähren können. Nichts als der nackte, ausgetrocknete Erdboden und alles ringsum von herabsinkendem Regen verhüllt, der nach und nach Decken, Kleidung und alles bis auf die Haut durchtränkte.
Die Lage war in der Tat kritisch, und doch mußte er sich wohl oder übel mit ihr abfinden. Unter den jetzigen Verhältnissen einen Abstieg zu versuchen, wäre der reinste Wahnsinn gewesen. Cyprien ließ sich denn auch ruhig bis auf die Knochen durchnässen, da er damit rechnete, sich am Morgen in der warmen Sonne wieder zu trocknen.
Nachdem die erste Unannehmlichkeit überwunden hatte, sagte sich Cyprien, daß dieser Regen - eine erfrischende Dusche nach der Trockenheit der vorhergehenden Tage - wie um sich über sein Mißgeschick zu trösten, eigentlich etwas recht Wünschenswertes sei; eine der peinlichsten Folgen bestand aber darin, daß er sein Essen, wenn auch nicht ganz roh, so doch ganz kalt genießen mußte. Ein Feuer anzuzünden oder selbst nur ein Streichhölzchen bei solchem Wetter in Brand zu setzen, daran war gar nicht zu denken. Er begnügte sich also, eine Büchse mit konserviertem Fleisch zu essen, und es zu verzehren, wie es eben war.