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Nach rechts geneigt, kurvten die beiden Motorradfahrer, gefolgt von den Limousinen, in die Avenue du Maine. Aufrecht hinter dem Fahrer im Fond des ersten Wagens sitzend und starr geradeaus blickend, wurde sekundenlang eine hochgewachsene, mit einem dunkelgrauen Anzug bekleidete Gestalt sichtbar. Der Schakal erhaschte einen flüchtigen Blick auf das hocherhobene Haupt und die unverkennbare Nase, bevor der Konvoi vorbeigebraust war. Das nächstemal, wenn ich dein Gesicht sehe, schwor er der blitzartig entschwundenen Erscheinung, werde ich es scharf eingestellt im Fadenkreuz meines Zielfernrohrs haben.

Dann fand er ein Taxi und ließ sich in sein Hotel zurückfahren.

Ein Stück weiter den Boulevard hinauf, nahe der Metro-Station Duroc, der sie soeben entstiegen war, hatte eine andere Gestalt die Vorbeifahrt des Präsidenten mit mehr als dem üblichen Interesse beobachtet. Sie war im Begriff gewesen, die Straße zu überschreiten, als ein Polizist sie zurückwinkte. Sekunden später schoß der aus dem Boulevard des Invalides kommende Automobilkonvoi über die kopfsteingepflasterte Place Leon Paul Fargue in den Boulevard du Montparnasse. Auch sie hatte das unverkennbare Profil im Fond des ersten Citroen gesehen, und ihre Augen hatten in leidenschaftlichem Haß gefunkelt. Noch als die Wagen lange schon vorübergefahren waren, hatte sie ihnen nachgestarrt, bis sie sah, daß der Polizist sie mißtrauisch von oben bis unten zu mustern be-; gann. Rasch hatte sie ihren Weg zur anderen Straßenseite fortgesetzt.

Jacqueline Dumas war damals sechsundzwanzig Jahre alt und von beträchtlicher Schönheit, die sie vorzüglich zur Geltung zu bringen verstand, da sie als Kosmetikerin in einem teuren Salon hinter den Champs-Elysees arbeitete. Am späten Nachmittag des 30. Juli beeilte sie sich, rechtzeitig in ihre bei der Place de Breteuil gelegene kleine Wohnung zurückzukehren, um sich für ihr Rendezvous am Abend zurechtzumachen. Sie wußte, daß sie sich in wenigen Stunden nackt in den Armen ihres Liebhabers finden würde, den sie haßte, und sie wollte so schön aussehen, wie es ihr nur möglich war.

Noch vor wenigen Jahren war das nächste Rendezvous alles gewesen, was in ihrem Leben zählte. Sie stammte aus gutem Haus, und ihre Familie bildete eine engverbundene, von starkem Zusammengehörigkeitsgefühl erfüllte kleine Gruppe. Ihr Vater war ein verdienter Angestellter eines Bankhauses, ihre Mutter die typische Hausfrau und maman der französischen Mittelklasse, sie selbst im Begriff, ihren Kosmetikkurs zu beenden, und ihr Bruder Jean-Claude damals dabei, seinen Militärdienst abzuleisten. Die Familie wohnte in dem Pariser Vorort le Vesinet, nicht gerade in dessen bester Gegend, aber doch in einem recht hübschen Haus.

Das Telegramm des Ministeriums der bewaffneten Streitkräfte war eines Tages gegen Ende des Jahres 1959 zum Frühstück gebracht worden. Es besagte, daß der Minister es unendlich bedaure, Madame und Monsieur Dumas vom Tod ihres Sohnes Jean-Claude, Soldat im Ersten Kolonialen Fallschirm Jägerregiment in Algerien, Mitteilung machen zu müssen. Seine persönliche Habe werde der schwergetroffenen Familie so rasch wie möglich übersandt werden.

Eine Zeitlang war Jacquelines private Welt wie zerstört. Nichts mehr schien einen Sinn zu haben — weder die stille Geborgenheit im Schoß der Familie in le Vesinet noch das Geplauder der anderen Mädchen im Schönheitssalon über den Charme Yves Montands oder le Rock, den jüngst aus Amerika importierten Modetanz. Das einzige, was ihr wie eine sich ewig um dieselbe Spule drehende Bandaufnahme im Kopf herumging, war der Gedanke daran, daß der kleine Jean-Claude, ihr so verletzliches und sanftes geliebtes Brüderchen, das Krieg und Gewalttätigkeit immer gehaßt und sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als mit seinen Büchern allein gelassen zu werden, in einem Gefecht irgendwo in einem gottverlassenen algerischen wadi erschossen worden war. Sie begann zu hassen. Es waren die Araber, die widerwärtigen, dreckigen und feigen »melons«, die ihr das angetan hatten.

Dann war Francis gekommen. Ganz plötzlich war er eines Morgens an einem Sonntag im Winter erschienen, als die Eltern das Haus verlassen hatten, um Verwandte zu besuchen. Es war im Dezember gewesen, Schnee hatte auf der Avenue gelegen und auch den Gartenpfad bedeckt. Andere Leute waren blaß und verfroren, und Francis sah braun gebrannt und fit aus. Er fragte, ob er Mademoiselle Jacqueline sprechen könne. Sie sagte »C'est mol meme« und was er denn wünsche. Er sagte, daß er den Zug führe, dem der gefallene Soldat Jean-Claude Dumas zugeteilt gewesen sei, und daß er einen Brief zu überbringen habe. Sie bat ihn hereinzukommen.

Der Brief war einige Wochen, bevor Jean-Claude fiel, geschrieben worden, und er hatte ihn auf der Patrouille im Djebel, auf der sie nach einer Bande von Fellachen Ausschau hielten, die eine ganze Siedlerfamilie niedergemacht hatte, in der inneren Brusttasche seiner Uniformjacke verwahrt. Sie hatten die Guerillas nicht aufgespürt, waren aber auf ein Bataillon der ALN, der kampferprobten regulären Truppe der algerischen Nationalbewegung FLN, gestoßen. In der anbrechenden Dämmerung hatte es ein erbittertes Gefecht gegeben, bei dem Jean-Claude einen Lungendurchschuß erhielt. Bevor er starb, übergab er den Brief seinem Zugführer.

Jacqueline las ihn und weinte ein wenig. Der Brief erwähnte die letzten Wochen nicht, sondern beschrieb lediglich das Kasernenleben in Constantine, die Nahkampfübungen und die strenge Disziplin. Den Rest erfuhr sie von Francis: Er berichtete ihr von dem fünf Kilometer langen Rückmarsch durch das Unterholz, während die ALN sie überholte und einkreiste; von den verzweifelten Funkrufen nach Luftunterstützung und dem Eingreifen der Kampfbomber mit ihren heulenden Triebwerken und donnernden Raketen. Und davon, wie ihr Bruder, der sich freiwillig zum Dienst in einem der härtesten Regimenter gemeldet hatte, um zu beweisen,daß er ein Mann war, auch wie ein solcher zu sterben wußte, während er im Schatten eines Felsbrockens auf die Knie eines Korporals Blut hustete.

Francis war sehr zartfühlend ihr gegenüber gewesen. Als Mann war er hart wie die Erde der kolonialen Provinz, die ihn in vier Kriegsjahren zum Berufssoldaten gestählt hatte. Aber gegenüber der Schwester eines seiner Männer war er zartfühlend und sanft. Das nahm sie für ihn ein, und so stimmte sie seinem Vorschlag, in Paris zu Abend zu essen, gern zu.

Abgesehen davon befürchtete sie, ihre Eltern könnten zurückkehren und sie überraschen. Sie wollte nicht, daß sie erführen, wie Jean-Claude gestorben war, denn beide hatten es verstanden, sich in den seither vergangenen zwei Monaten dem Schmerz zu verschließen und ihr gewohntes Leben weiterzuleben. Beim Essen beschwor sie den Leutnant, ihren Eltern nichts von alldem zu sagen, und er versprach es ihr.

Sie selbst aber konnte nicht genug erfahren über den Krieg in Algerien; sie mußte wissen, was in Wahrheit geschah, worum es in Wahrheit ging, was die Politiker in Wahrheit bezweckten. General de Gaulle hatte im vergangenen Januar als Premierminister die Präsidentschaft erlangt und war von einer Woge vaterländischer Begeisterung als der Mann, der den Krieg beenden und Algerien dennoch Frankreich erhalten würde, in den Elysee-Palast getragen worden. Es geschah aus Francis' Mund, daß sie erstmals die Bezeichnung» Verräter Frankreichs «für den Mann hörte, den ihr Vater bewunderte.

Solange Francis' Urlaub währte, trafen sie sich allabendlich nach ihrer Arbeit im Schönheitssalon, in dem sie seit Januar 1960, als sie ihre Kosmetikprüfung abgelegt hatte, beschäftigt war. Er berichtete ihr von dem Verrat an der französischen Armee, von den geheimen Verhandlungen, welche die Pariser Regierung mit Ahmed Ben Bella, dem Führer der FLN, aufgenommen hatte, und von der bevorstehenden Übergabe Algeriens an die melons. In der zweiten Januarhälfte war er in seinen Krieg zurückgekehrt, und in Marseille hatte sie noch einmal eine kurze Zeit mit ihm allein verbringen können, als es ihm gelang, eine Woche Urlaub zu erhalten. Seither hatte sie auf ihn gewartet, und in ihren geheimsten Gedanken war er ihr zu einem Symbol alles dessen geworden, was an junger französischer Männlichkeit gut und sauber und aufrichtig war. Sein Photo, das bei Tag und am Abend neben ihrem Bett auf dem Tischchen stand, hielt sie im Schlaf unter dem Nachthemd an ihren Bauch gepreßt. Sie wartete den Herbst und Winter 1960 hindurch auf ihn.