«Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir sagen. Er rief mich vor einer Viertelstunde an, erwähnte Ihren Namen und sagte, daß er Sie sofort sprechen müsse. Haben Sie irgend etwas angestellt?«Thomas dachte an die Ermittlungen, die er angestellt hatte und noch anstellte, und war überrascht, daß die Kenntnis davon in so kurzer Zeit bis nach ganz oben gedrungen sein sollte. Wenn es der Premierminister jedoch vorzog, seinen eigenen Sicherheitsbeauftragten nicht ins Vertrauen zu ziehen, so war das seine Sache.»Nicht, daß ich wüßte«, sagte er.
Harrowby griff zum Telephon, das auf seinem Schreibtisch stand, und ließ sich mit dem Arbeitszimmer des Premierministers verbinden. Es knackte in der Leitung, und eine Stimme sagte:»Ja?«
«Harrowby, Premierminister. Superintendent Thomas ist bei mir. Ja, Sir, unverzüglich. «Er legte den Hörer auf.
«Er will Sie sofort sehen. Sie müssen irgend etwas angestellt haben. Es warten noch zwei Minister, die ihn sprechen wollen. Kommen Sie.«
Harrowby geleitete ihn aus dem Zimmer hinaus und einen Korridor hinunter, der auf eine mit grünem Flanellstoff ausgekleidete Tür zuführte. Ein Sekretär trat heraus, sah die beiden näher kommen und hielt die Tür auf. Harrowby ging voran, sagte» Superintendent Thomas, Premierminister «und verließ das Zimmer, indem er leise die Tür hinter sich schloß.
Thomas stellte fest, daß der elegant möblierte, stille große Raum mit den hohen Wänden, den vielen Büchern und Zeitungen, die sich auf den Tischen stapelten, und dem Duft nach Pfeifentabak und Holztäfelung eher wie das Arbeitszimmer eines Universitätsprofessors als das eines Premierministers wirkte. Die Gestalt am Fenster wandte sich um.»Guten Tag, Superintendent. Bitte, setzen Sie sich doch.«»Guten Tag, Sir. «Thomas entschied sich für einen Stuhl ohne Armlehne, der an den Tisch gerückt war, und nahm auf der Kante Platz. Er hatte nie Gelegenheit gehabt, den Premierminister aus so großer Nähe zu sehen. Sein melancholisch verhangener Blick erinnerte ihn an den eines Bluthundes, der eine lange Hetzjagd hinter sich hat, die für ihn kein Vergnügen gewesen war.
Der Premier begab sich schweigend an seinen Arbeitstisch und setzte sich. Selbstverständlich hatte Thomas von den in und um Whitehall zirkulierenden Gerüchten gehört, daß die Gesundheit des Premiers nicht die allerbeste sei und die nervliche Anspannung, die es ihn gekostet hatte, die Regierung über die durch den Keeler/W ard-Skandal hervorgerufene Krise einigermaßen heil hinwegzubringen, ihren Tribut gefordert habe. Dennoch war er von dem erschöpften und gealterten Aussehen des ihm gegenübersitzenden Mannes betroffen.»Superintendent Thomas, ich höre, daß Sie gegenwärtig auf ein gestern morgen telephonisch aus Paris ergangenes Ansuchen eines Kriminaldirektors der französischen Police Judiciaire mit Ermittlungen befaßt sind…«
«Ja, Sir.«
«… und daß dieses Ersuchen mit der Befürchtung der französischen Sicherheitsbehörden zusammenhängt, ein vermutlich von der OAS gedungener Mann — ein Berufsmörder — könne auf eine Mission nach Frankreich geschickt worden sein?«
«Das wurde uns nicht ausdrücklich mitgeteilt, Sir. Das Ersuchen bezog sich auf Hinweise zur Identifizierung derartiger Berufskiller, soweit sie uns zur Kenntnis gelangt sind. Irgendwelche Gründe dafür, weshalb Hinweise dieser Art erwünscht sind, wurden nicht genannt.«
«Nun gut. Und welche Schlüsse ziehen Sie aus der Tatsache, daß ein solches Ersuchen gestellt worden ist?«
Thomas zuckte kaum merklich mit den Achseln.
«Die gleichen wie Sie, Sir.«»Genau. Man braucht kein Hellseher zu sein, um den einzig möglichen Grund zu erraten, warum die französischen Behörden ein solches-Subjekt identifizieren wollen. Und werwäre Ihrer Ansicht nach als Opfer dieses Mannes ausersehen, falls die Vermutung der französischen Polizei, daß es ihn gibt, zu Recht besteht?«
«Nun, Sir, ich nehme an, die Franzosen befürchten, daß ein Berufsmörder gedungen worden ist, einen Anschlag auf den Präsidenten zu verüben.«
«Genau. Das wäre übrigens nicht der erste derartige Versuch.«»Nein, Sir. Es sind bereits sechs Attentatsversuche unternommen worden.«
Der Premierminister starrte auf die vor ihm liegenden Papiere, als könne er ihnen irgendeinen Hinweis entnehmen, was in den letzten Monaten seiner Amtszeit aus der Welt geworden war.»Ist Ihnen klar, Superintendent, daß es in diesem Land offenbar eine Reihe von Leuten gibt, Leuten in durchaus achtbaren und einflußreichen Positionen, die keineswegs unglücklich wären, wenn Sie Ihre Ermittlungen etwas weniger energisch betrieben?«»Nein, Sir. «Thomas war aufrichtig überrascht.»Würden Sie mich bitte über den bisherigen Verlauf und gegenwärtigen Stand Ihrer Ermittlungen unterrichten?«
Thomas begann von Anfang an und schilderte, wie es zur Weitergabe des Ersuchens an den Sicherheitsdienst kam, nachdem eine gründliche Durchsicht aller einschlägigen Kriminalakten im Zentralarchiv keine relevanten Ergebnisse gezeitigt hatte; er ging kurz auf das Gespräch mit Lloyd ein, der seinerseits einen Mann namens Calthrop erwähnt hatte, von dem es gerüchtweise hieß, er sei an der Ermordung Trujillos beteiligt gewesen, und berichtete dann über die bisher angestellten Nachforschungen.
Als er sein Resümee beendet hatte, erhob sich der Premierminister und trat ans Fenster, das auf den sonnenbeschienenen kleinen Rasen im Innenhof hinausging. Minutenlang starrte er reglos in den Hof hinunter und ließ die Schultern hängen. Thomas fragte sich, woran er wohl denken mochte. Vielleicht dachte er an einen Strand außerhalb von Algier, an dem er sich mit dem hochmütigen Franzosen, der jetzt dreihundertfünfzig Kilometer entfernt in einem anderen Amtsraum saß und die Geschicke seines Landes lenkte, ergangen und lange unterhalten hatte. Damals waren sie beide zwanzig Jahre jünger gewesen und die vielen Dinge, die sich später ereignen sollten, noch nicht zwischen sie getreten.
Vielleicht mußte er daran denken, wie derselbe Franzose vor acht Monaten in wohlabgewogenen, sonor tönenden Sätzen die Hoffnungen des britischen Premierministers zunichte gemacht hatte, seine politische Karriere mit dem Eintritt Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu krönen und sich mit der Genugtuung dessen, der seinen Traum verwirklicht hat, in das Privatleben zurückziehen zu können.
Vielleicht dachte er aber auch an die hinter ihm liegenden quälenden Monate, in denen die Aussagen eines Zuhälters und einer Kokotte fast den Sturz der Regierung Großbritanniens herbeigeführt hatten. Er war ein alter Mann und noch in einer Welt geboren und aufgewachsen, in der es Maßstäbe für Gut und Böse gab. Er hatte an diese Maßstäbe geglaubt und sie befolgt. In einer Welt, deren Bewohner und Ideen sich gewandelt hatten, gehörte er der Vergangenheit an. Begriff er, daß es jetzt neue Maßstäbe gab, die er vage zu erkennen, aber nicht zu schätzen vermochte?
Vermutlich wußte er, als er auf das sonnenbeschienene kleine Rasenstück hinunterblickte, was bevorstand. Die notwendigen Änderungen — und damit sein Abtritt von der politischen Bühne — konnten nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden. Früher oder später würden die neuen Leute die Geschicke der Welt in die Hand nehmen. Auf vielen Gebieten war es schon soweit, daß die Welt sich ihnen auslieferte. Aber sollte sie auch den Zuhältern und Dirnen, Spionen und — Mördern ausgeliefert werden?
Thomas sah, daß der alte Mann die Schultern straffte, bevor er sich zu ihm umwandte.»Superintendent Thomas, Sie müssen wissen, daß General de Gaulle mein Freund ist. Wenn auch nur die leiseste Möglichkeit besteht, daß sein Leben in Gefahr sein könnte und daß ihm diese Gefahr von einem britischen Staatsangehörigen droht, dann muß der Mann unschädlich gemacht werden. Ab sofort werden Sie Ihre Ermittlungen mit verdoppeltem Eifer betreiben. Innerhalb einer Stunde werden Ihre Vorgesetzten von mir persönlich Vollmacht erhalten, Ihnen jede nur mögliche Hilfe zu gewähren. Sie werden weder in finanzieller noch in personeller Hinsicht an irgendwelche Beschränkungen gebunden sein. Sie sind befugt, wen auch immer Sie wollen zur Mitarbeit in ihrem Team zu verpflichten und Einsicht in jedwede Unterlage aller derjenigen Behörden des Landes zu nehmen, deren Archive für Ihre weiteren Ermittlungen von Nutzen sein könnten. Sie werden auf ausdrückliche persönliche Weisung von mir in dieser Angelegenheit uneingeschränkt mit den französischen Behörden zusammenarbeiten. Und erst wenn Sie absolut sicher sind, daß der Mann, den die Franzosen identifizieren und festnehmen wollen, wer immer er auch sein mag, kein Engländer ist und auch nicht etwa von hier aus operiert, können Sie die Ermittlungen einstellen. Vorher jedoch werden Sie mir persönlich Bericht erstatten.