Auf der Rückfahrt nach London ließ sich Thomas die Aussagen Monsons noch einmal durch den Kopf gehen. Die seinerzeit von Calthrop für seine Flucht aus der Dominikanischen Republik angegebene Begründung war logisch. Sie bestätigte das vom karibischen Residenturchef des SIS kolportierte Gerücht von seiner Beteiligung am Attentat keineswegs, sondern entkräftete es eher. Andererseits war Calthrop laut Monson ein Mann, der nicht davor zurückschreckte, ein doppeltes Spiel zu treiben. Könnte er als der bevollmächtigte Vertreter einer Handfeuerwaffenfabrik, der einen Handel abzuschließen hofft, auf der Insel aufgetreten sein und zugleich im Sold der Revolutionäre gestanden haben? Monson hatte etwas erwähnt, was Thomas beunruhigte: Er hatte gesagt, Calthrop habe nicht viel von Gewehren verstanden, als er in die Firma eintrat. Und ein Meisterschütze mußte doch wohl in jedem Fall ein Experte sein. Andererseits konnte er die entsprechenden Kenntnisse ja auch erworben haben, während er für die Firma arbeitete. Aber warum sollten die Anti-Trujillo-Partisanen ihn gedungen haben, den Wagen des Generals mit einem einzigen Schuß auf einer Schnellstraße zum Stehen zu bringen, wenn er als Gewehrschütze ein Anfänger war? Oder hatten sie ihn gar nicht gedungen? Entsprach Calthrops eigene Darstellung womöglich der Wahrheit?
Thomas zuckte mit den Achseln. Es bewies nichts, und es widerlegte nichts. Also wieder bei Null angelangt, dachte er bitter. Aber in seinem Büro erwartete ihn eine Nachricht, die ihn umstimmte. Der Inspektor, der bei Calthrops Nachbarn Erkundigungen angestellt hatte, war zurückgekehrt. Er hatte eine Nachbarin angetroffen, die als Berufstätige den ganzen Tag über nicht zu Hause gewesen war. Die Frau gab an, Mr. Calthrop sei vor einigen Tagen verreist und habe erwähnt, daß er nach Schottland fahren wolle.Auf dem Rücksitz seines vor dem Haus geparkten Wagens glaubte die Frau etwas bemerkt zu haben, was wie eine zerlegbare Angelrute aussah.
Eine zerlegbare Angelrute? Superintendent Thomas überkam ein plötzliches Frösteln, obschon es im Büro warm war. Als der Kriminalinspektor seinen Bericht beendet hatte, trat einer seiner Kollegen ein.
«Super?«
«Was gibt's?«
«Mir ist gerade etwas eingefallen.«
«Ja?«
«Sprechen Sie französisch?«
«Nein, Sie?«
«Ja, meine Mutter war Französin. Der Killer, nach dem die PJ fahndet, hat doch den Decknamen Schakal, stimmt's?«
«Na, und?«
«Nun, Schakal heißt auf Französisch Chacal. C-H-A-C-A-L — fällt Ihnen nichts auf? Vielleicht ist es auch bloß Zufall. Aber der Bursche muß seiner Sache schon verdammt sicher sein, wenn er sich einen Decknamen zulegt, der aus den ersten drei Buchstaben seines Vornamens und den ersten drei Buchstaben seines Nachnamens besteht…«
«Donnerwetter!«sagte Thomas und nieste heftig. Dann griff er nach dem Telephon.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Das dritte Treffen im Innenministerium begann erst kurz nach 22 Uhr, weil der Wagen des Ministers auf der Rückfahrt von einem diplomatischen Empfang durch den Verkehr aufgehalten worden war. Sobald der Minister Platz genommen hatte, bedeutete er den Anwesenden mit einer Geste, daß die Sitzung beginnen könne. Als erster berichtete General Guibaud vom SDECE. Kassel, der als Killer hervorgetretene ehemalige NaziKriegsverbrecher, war von Agenten der Madrider Residentur des SDECE aufgespürt worden. Er lebte zurückgezogen in seiner Penthouse-Wohnung in der spanischen Hauptstadt, war als Partner in das florierende Geschäft eines anderen ehemaligen SS-Führers eingetreten und stand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mit der OAS in Verbindung. Das Madrider Büro, das dessenungeachtet bereits ein umfängliches Dossier über den Mann angelegt hatte, als die Anweisung aus Paris kam, den Fall Kassel nochmals zu überprüfen, war darüber hinaus der Ansicht, daß er nie etwas mit der OAS zu tun gehabt hatte.
In Anbetracht seines Alters, der zunehmenden Häufigkeit seiner rheumatischen Anfälle, die auch seine Beine in Mitleidenschaft zu ziehen begannen, wie auch seines beträchtlichen Alkoholkonsums wegen konnte Kassel als mutmaßlicher Attentäter so gut wie ausgeschlossen werden.
Als der General geendet hatte, richteten sich aller Augen auf Kommissar Lebel. Sein Bericht klang entmutigend. Im Lauf des Tages waren bei der PJ die Auskünfte von den Polizeibehörden der drei Länder eingegangen, die bereits vierundzwanzig Stunden zuvor die Namen einer Reihe möglicher Verdächtiger übermittelt hatten.
Aus den USA war gemeldet worden, daß Chuck Arnold, der Waffenhändler, sich in Kolumbien aufhielt, wo er dem dortigen Stabschef namens seines amerikanischen Auftraggebers einen Posten aus ehemaligen US-Armeebeständen stammender AR-10-Karabiner zu verkaufen suchte. In Bogota wurde er ohnehin ständig von der CIA beschattet, und es lagen keinerlei Anzeichen dafür vor, daß er irgend etwas anderes im Sinn hatte, als sein Waffengeschäft, ungeachtet der offiziellen Mißbilligung von Seiten der amerikanischen Behörden, unter Dach und Fach zu bringen.
Dennoch war das Dossier dieses Mannes per Fernschreiben nach Paris übermittelt worden — wie übrigens auch das Vitellinos. Aus letzterem ging hervor, daß der ehemalige Cosa-Nostra-Gorilla zwar noch nicht aufgespürt worden war, seine Statur und seine ganze Erscheinung — er war ungemein breitschultrig und untersetzt — sich jedoch vom Aussehen des Schakals, wie es der Hotelangestellte in Wien beschrieben hatte, so sehr unterschieden, daß auch er nach Ansicht Lebels von der Liste der Verdächtigen gestrichen werden konnte. Die Südafrikaner hatten in Erfahrung gebracht, daß Piet Schuyper jetzt als Chef einer Privatarmee fungierte, die von einer Diamanten-Bergwerksgesellschaft in einem der westafrikanischen Staaten des Britischen Commonwealth unterhalten wurde. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Grenzen der ausgedehnten Gebiete, die der Gesellschaft gehörten, zu sichern und ständig für eine wirksame Abschreckung der Diamantendiebe zu sorgen. Die Gesellschaft, die sich einzig und allein für den Erfolg, nicht aber für die Art der von ihm praktizierten
Abschreckungsmethoden interessierte, hatte auf Rückfrage aus Johannesburg bestätigt, daß er sich in Westafrika befinde und dort seinen Dienst versehe.
Die belgische Polizei hatte Erkundigungen über ihren Ex-Söldner eingeholt. Im Archiv einer der belgischen Botschaften in Westindien war ein Dossier ausgegraben worden, demzufolge der ehedem in katangesischen Diensten stehende Söldner vor drei Monaten bei einer Schlägerei in einer Hafenbar in Guatemala ums Leben gekommen sei.
Als Lebel den letzten Bericht verlesen hatte und von den vor ihm liegenden Dossiers aufblickte, waren vierzehn Augenpaare auf ihn gerichtet, deren Mehrzahl ihn kalt und herausfordernd ansah.
«Alors, rien?« fragte Oberst Rolland.
«Nein, nichts«, räumte Lebel ein.»Keiner der uns gegebenen Hinweise scheint irgendwelche Resultate zu erbringen.«
«Ist das alles, was bei Ihrer >reinen Detektivarbeit< herausgekommen ist?«fragte Saint Clair sarkastisch und musterte Bouvier und Lebel mit kalter Verachtung.
«Meine Herren«, sagte der Innenminister, mit Bedacht die Pluralform gebrauchend, damit beide Polizeikommissare sich angesprochen fühlten,»das sieht ja ganz danach aus, als seien wir wieder auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen.«
«Das fürchte ich in der Tat«, entgegnete Lebel. Bouvier warf sich für ihn in die Bresche.»Mein Kollege fahndet praktisch ohne jeglichen Hinweis und ohne auch nur einen einzigen Anhaltspunkt zu haben, nach einem Verbrecher, der vom Typ her kaum zu greifen ist. Diese Sorte pflegt für ihr Geschäft keine Werbung zu betreiben und auch ihre Adresse nicht zu hinterlassen.«
«Darüber sind wir uns durchaus im klaren, mein lieber Kommissar«, bemerkte der Minister eisig,»die Frage ist nur…«
Es klopfte an der Tür. Der Minister runzelte die Stirn; er hatte Anweisung gegeben, die Sitzung nur im dringenden Ausnahmefall zu stören.