Als der Schakal sein Fruchteis löffelte, hörte er, wie die hinter ihm sitzende Dame den maitre, der sie als» Madame la Baronne «titulierte, mit befehlsgewohnt leiser Stimme wissen ließ, daß sie ihren Kaffee in der Halle zu nehmen wünsche. Wenig später bat auch der Schakal, ihm den Kaffee in der Halle zu servieren, und begab sich auf den Weg dorthin.
Der Anruf aus dem Somerset House erreichte Superintendent Thomas um 22 Uhr 15. Er saß bei offenem Fenster in seinem Büro und blickte auf die um diese Zeit stille Straße hinunter, in die kein Restaurant späte Gäste und Autofahrer lockte. Die Bürohäuser zwischen Millbank und Smith Square waren stumme Klötze, dunkel, blind, gleichgültig. Nur in dem unansehnlichen Block, der die Büros von Scotland Yards Special Branch beherbergte, brannte wie immer noch Licht.
Am etwa eine Meile entfernten Strand war das Licht in dem Flügel des Somerset House, in welchem die Totenscheine von Millionen verstorbener britischer Staatsbürger verwahrt wurden, ebenfalls noch nicht erloschen. Hier hockte Thomas' aus sechs Kriminalsergeants und zwei Kriminalinspektoren gebildete Sonderkommission über Stapeln von Dokumenten und Papieren. Alle paar Minuten stand jemand auf und verließ seinen Platz, um einen der ausgesuchten Beamten des Hauses, die heute abend weitaus länger Dienst tun mußten als ihre glücklicheren Kollegen, auf seinem Marsch an den endlosen Aktenregalen entlang zu begleiten und einen weiteren Namen zu überprüfen.
Es war der mit der Leitung der Sonderkommission beauftragte dienstältere Inspektor, der anrief.
Seine Stimme klang müde, aber zuversichtlich — hoffte er sich und seine Kollegen doch mit dem, was er zu melden hatte, von der Mühsal zu erlösen, weitere Hunderte und aber Hunderte Namen von Paßantragstellern auf die Möglichkeit überprüfen zu müssen, daß es auf sie ausgestellte Totenscheine gab.
«Alexander James Quentin Duggan«, verkündete er, als Thomas sich gemeldet hatte.»Was ist mit ihm?«fragte Thomas.
«Geboren am 3.April 1929 in Sambourne Fishley in der St.-Markus-Gemeinde. Beantragte in der üblichen Weise und auf dem üblichen Formular am 14. Juli dieses Jahres einen Paß. Der Paß wurde am darauffolgenden Tag ausgestellt und am 17. Juli an die auf dem Antragsformular angegebene Adresse geschickt. Wird sich vermutlich um eine Deckadresse handeln.«
«Warum?«fragte Thomas. Er liebte es nicht, wenn man ihn warten ließ.
«Weil Alexander James Quentin Duggan am 8. November 1931 bei einem Verkehrsunfall in seinem Heimatdorf im Alter von zweieinhalb Jahren ums Leben kam.«
Thomas dachte einen Augenblick lang nach.
«Wie viele in den letzten hundert Tagen ausgestellte Pässe haben Sie noch zu überprüfen?«fragte er.
«Etwa dreihundert«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
«Lassen Sie auch die, für den Fall, daß sich ein weiterer Betrüger darunter befindet, noch überprüfen«, ordnete Thomas an.»Geben Sie die Leitung der Sonderkommission an Ihren Kollegen ab. Ich möchte, daß Sie die Adresse, an die der Paß geschickt wurde, auskundschaften. Rufen Sie mich an, sobald Sie sie gefunden haben. Wenn es ein bewohntes Gebäude ist, verlangen Sie den Besitzer oder den Hauswart zu sprechen. Holen Sie alles, was er über Calthrop weiß, aus ihm heraus, und bringen Sie mir auch das für die Akten bestimmte Photo Duggans mit, das seinem Antrag beigefügt war. Ich will mir diesen Calthrop in seiner neuen Verkleidung mal ansehen.«
Es war fast 23 Uhr, als der dienstälteste Inspektor zurückrief. Bei der fraglichen Adresse handelte es sich um ein kleines Tabak-und Zeitungsgeschäft in Paddington. Es war eines von der Sorte, in deren Schaufester Karten mit den Adressen Prostituierter aushängen. Der Inhaber, der über dem Laden wohnte, war aus dem Schlaf geklingelt worden. Er bestätigte, daß er häufig Postsendungen für Kunden entgegennahm, die keine feste Adresse hatten, und für derartige Dienste eine Gebühr berechnete. An einen Stammkunden namens Duggan konnte er sich nicht erinnern, aber es war möglich, daß Duggan ihn zweimal auf gesucht hatte
— einmal, um zu vereinbaren, daß seine Post dort empfangen wurde, und das zweitemal, um die erwartete Sendung abzuholen. Auf der
Photographie von Calthrop, die der Inspektor ihm zeigte, hatte der Ladenbesitzer ihn nicht erkannt. Der Inspektor wies ihm auch Duggans Photo vor, das dem Paßantrag beigefügt gewesen war, und diesen Mann glaubte der Ladeninhaber gesehen zu haben. Aber sicher war er sich dessen nicht. Es war gut möglich, daß der Mann eine dunkle Brille getragen hatte. Manche Kunden, die sich für erotische Magazine interessierten, trugen dunkle Brillen.
«Bringen Sie ihn auf die Wache«, befahl Thomas,»und kommen Sie so rasch wie möglich her. «Er drückte auf die Gabel, wählte die Telephonzentrale und ließ sich mit Paris verbinden. Wiederum kam der Anruf mitten in der Konferenz. Kommissar Lebel hatte erklärt, daß sich Calthrop mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht unter eigenem Namen in Frankreich aufhalte, es sei denn, er habe sich in einem Fischerboot an Land geschmuggelt oder die Grenze an einer unbewachten Stelle überschritten. Er persönlich glaube jedoch nicht, daß ein» Mann vom Fach «dergleichen je tun würde, denn bei jeder Razzia oder Ausweiskontrolle könne er festgenommen werden, weil sein Paß keinen Einreisestempel aufwies.
Auch war kein Charles Clathrop unter seinem eigenen Namen in irgendeinem französischen Hotel abgestiegen.
Diese Fakten wurden sowohl von den Chefs der RG und der DST als auch vom Polizeipräfekten von Paris bestätigt und daher nicht in Zweifel gezogen.
Es gab, so argumentierte Lebel, zwei Möglichkeiten. Die eine bestand darin, daß der Mann sich keine falschen Papiere beschafft hatte, weil er davon ausgegangen war, daß man ihn nicht verdächtigen würde. Indem Fall hatte ihn die Haussuchung durch die Londoner Polizei von seinem Vorhaben abgebracht. Lebel fügte hinzu, er persönlich glaube nicht an diese Möglichkeit, weil Superintendent Thomas' Leute die Garderobenschränke in der Wohnung halb leer vorgefunden und zudem festgestellt hatten, daß das Wasch- und Rasierzeug des Mannes fehlte, was darauf hindeutete, daß er seine Londoner Wohnung mit einem ganz bestimmten Reiseziel verlassen hatte. Das wurde auch durch die Aussage einer Nachbarin bestätigt, derzufolge Calthrop gesagt habe, er wolle mit dem Wagen eine Rundreise durch Schottland unternehmen. Weder die britische noch die französische Polizei hatte Anlaß, dies für die Wahrheit zu halten.Die zweite Möglichkeit war, daß Calthrop sich falsche Papiere beschafft hatte, und ihr ging die britische Polizei jetzt nach. In diesem Fall konnte es sein, daß er sich entweder noch gar nicht in Frankreich befand, sondern an irgendeinem anderen Ort aufhielt, wo er seine Vorbereitungen abschloß, oder bereits nach Frankreich eingereist war, ohne Verdacht erregt zu haben. Als Lebel an diesem Punkt seiner Darstellung angelangt war, geschah es, daß einigen Konferenzteilnehmern der Kragen platzte.
«Wollen Sie damit sagen, daß er schon in Frankreich, ja womöglich bereits hier in Paris sein kann?«verlangte Alexandre Sanguinetti zu wissen.
«Der springende Punkt ist, daß er einen Zeitplan hat und daß nur er ihn kennt. Wir ermitteln jetzt seit zweiundsiebzig Stunden. Zu welchem Zeitpunkt seines Terminplans wir uns eingeschaltet haben, können wir nicht wissen. Mit Sicherheit läßt sich nur eines sagen — daß der Killer zwar weiß, wir haben Kenntnis von der Existenz eines Plans zur Ermordung des Präsidenten, daß er aber nicht wissen kann, wie weit unsere Ermittlungen gediehen sind. Deshalb besteht durchaus die Möglichkeit, daß wir einen nichtsahnenden Mann ergreifen, sobald wir ihn unter seinem neuen Namen identifiziert und lokalisiert haben.«
Aber die Versammlung ließ sich mit dieser halbwegs beruhigenden Erklärung nicht abspeisen. Der Gedanke, daß der Killer möglicherweise keinen Kilometer von ihnen entfernt und der Anschlag auf das Leben des Präsidenten auf seinem Zeitplan für morgen vorgesehen war, machte jedem von ihnen heillose Angst.