»Laß uns verschwinden, Julián…«
»Wir können nirgends hin«, sagte Carax so ruhig, daß ihn sein Freund alarmiert anschaute. Da sah er den Revolver in Juliáns Hand und die Entschlossenheit in seinem Blick. Die Klingel der Eingangstür schnitt ins Gemurmel des Radios.
Miquel riß Carax die Pistole aus der Hand und blickte ihn fest an.
»Gib mir deine Papiere, Julián.« Die drei Polizisten setzten sich scheinbar gleichgültig an die Theke. Einer von ihnen behielt sie im Augenwinkel, die andern beiden tasteten das Innere ihrer Mäntel ab.
»Die Papiere, Julián, jetzt gleich.« Carax schüttelte schweigend den Kopf.
»Mir bleibt noch ein, mit Glück zwei Monate. Einer von uns beiden muß hier raus, Julián. Du hast mehr Chancen als ich. Ich weiß nicht, ob du Penélope finden wirst. Aber Nuria wartet auf dich.«
»Nuria ist deine Frau.«
»Erinnere dich an unser Abkommen. Wenn ich sterbe, wird alles, was mein ist, dir gehören…«
»…außer den Träumen.« Zum letzten Mal lächelten sie sich an. Julián schob ihm rasch seinen Paß zu. Miquel steckte ihn zu dem Exemplar von Der Schatten des Windes, das er im Mantel mittrug seit dem Tag, an dem er es erhalten hatte.
»Auf bald«, murmelte Julián.
»Es eilt nicht. Ich werde warten.« Miquel stand vom Tisch auf und ging auf die Polizisten zu, die noch miteinander flüsterten. Zuerst sahen sie nur eine blasse, zitternde Spottgestalt. Als sie den Revolver in seiner Rechten erblickten, war Miquel nur noch knapp drei Meter von ihnen entfernt. Einer von den dreien wollte noch aufschreien, aber der erste Schuß zerschmetterte ihm den Unterkiefer. Sein Körper sackte träge zusammen. Die beiden andern Polizisten zogen ihre Waffen. Der zweite Schuß ging in den Bauch dessen, der älter aussah. Für den dritten Schuß blieb Miquel keine Zeit mehr. Der letzte Polizist hatte ihm die Pistole an die Rippen gesetzt, über dem Herzen. Miquel sah den panikerfüllten Blick des andern.
»Ganz ruhig, du Schweinehund, oder ich blase dich um.« Miquel lächelte und hob langsam den Revolver zum Gesicht des Polizisten. Der war höchstens fünfundzwanzig, und seine Lippen bebten.
»Richte Fumero einen schönen Gruß von Carax aus und daß ich mich noch immer an sein Matrosengewändchen erinnere.« Er spürte keinen Schmerz. Der Schuß warf ihn gegen die Glastür. Als er sie durchschlug, sah er eben noch Julián die Straße hinunterlaufen. Er war sechsunddreißig Jahre alt, älter, als er zu werden gehofft hatte.
9
Nachdem Julián in dieser Nacht in der Dunkelheit verschwunden war, fuhr auf einen Anruf des Mannes hin, der Miquel erschossen hatte, ein Lieferwagen ohne Kennzeichen vor. Nie bekam ich den Namen dieses Polizisten heraus, und ich glaube, auch er wußte nicht, wen er da umgebracht hatte. Zwei Männer luden die beiden toten Polizisten ein und legten dem Kellner des Cafés nahe, zu vergessen, was geschehen war, wenn er nicht ernsthafte Probleme wolle. Unterschätze nie die Fähigkeit zu vergessen, die Kriege in einem wecken, Daniel. Zwölf Stunden später, damit sein Tod nicht mit dem der beiden Polizisten in Zusammenhang gebracht werden konnte, wurde Miquels Leiche in eine Gasse des Raval geworfen. Als er schließlich ins Leichenhaus kam, war er schon zwei Tage tot. Bei seinem Weggang hatte Miquel seine ganzen Ausweispapiere zu Hause gelassen. Alles, was die Beamten des Leichenhauses fanden, waren ein von Blut verschmierter Paß auf den Namen von Julián Carax und ein wunderbarerweise heil gebliebenes Exemplar von Der Schatten des Windes. Daraus schloß die Polizei, der Tote sei Carax. Als Adresse nannte der Paß noch die Wohnung der Fortunys in der Ronda de San Antonio.
Mittlerweile war die Nachricht zu Fumero gelangt, der ins Leichenhaus kam, um sich von Julián zu verabschieden. Dort traf er auf den Hutmacher, den die Polizei geholt hatte, um die Leiche identifizieren zu lassen. Señor Fortuny, der Julián seit zwei Tagen nicht mehr gesehen hatte, befürchtete das Schlimmste. Als er die Leiche des Mannes sah, der eine knappe Woche zuvor bei ihm angeklopft und sich nach Julián erkundigt hatte (und den er für einen Schergen Fumeros gehalten hatte), schrie er auf und ging. In dieser Reaktion sah die Polizei ein Eingeständnis, daß er den Toten erkannt hatte. Fumero, der der Szene beigewohnt hatte, trat zur Leiche und studierte sie schweigend. Seit siebzehn Jahren hatte er Julián Carax nicht mehr gesehen. Als er Miquel Moliner erkannte, lächelte er bloß, unterschrieb das gerichtsmedizinische Formular zur Bestätigung, daß es sich um Julián Carax’ Leiche handle, und ordnete ihre unverzügliche Überführung in ein Massengrab auf dem Montjuïc an.
Lange Zeit fragte ich mich, warum Fumero so etwas tun sollte. Aber das entsprach genau seiner Logik. Dadurch, daß Miquel als Julián gestorben war, hatte er Fumero unfreiwillig ein perfektes Alibi geliefert. Von diesem Moment an existierte Julián Carax nicht mehr. Jetzt existierte keine Verbindung mehr zwischen Fumero und diesem Mann, den er früher oder später zu finden und umzubringen hoffte. Es herrschte Bürgerkrieg, und kaum jemand würde zum Tod von jemandem, der nicht einmal einen Namen hatte, Erklärungen verlangen. Julián hatte seine Identität verloren, er war ein Schatten. Zwei Tage lang wartete ich zu Hause auf Miquel oder Julián und dachte, ich würde wahnsinnig. Am dritten Tag, einem Montag, ging ich wieder in den Verlag zur Arbeit. Señor Cabestany war vor einigen Wochen ins Krankenhaus gebracht worden und sollte nicht mehr ins Büro kommen. Sein ältester Sohn, Alvaro, hatte die Geschäfte übernommen. Ich sagte zu niemandem etwas. Ich hätte nicht gewußt, zu wem.
Am selben Vormittag rief mich im Verlag ein Beamter des Leichenhauses an, Manuel Gutiérrez Fonseca. Dieser Herr erklärte mir, zu ihnen ins Totenhaus sei die Leiche eines gewissen Julián Carax gekommen und als er den Paß des Verstorbenen mit dem Namen des Autors des Buches verglichen habe, welches er bei seinem Eintritt ins Leichenhaus bei sich gehabt habe, habe er, da er gleichzeitig seitens der Polizei wenn nicht einen klaren Mißbrauch der Amtsgewalt, so doch eine gewisse Laxheit im Umgang mit dem Reglement geargwöhnt habe, die moralische Pflicht verspürt, den Verlag anzurufen, um über das Vorkommnis Bericht zu erstatten. Während ich ihm zuhörte, meinte ich sterben zu müssen. Mein erster Gedanke war, es handle sich um eine Falle Fumeros. Señor Gutiérrez drückte sich mit der Umständlichkeit des gewissenhaften Beamten aus, obwohl in seiner Stimme noch etwas mehr durchklang, etwas, was vermutlich nicht einmal er selbst hätte erklären können. Ich hatte den Anruf in Señor Cabestanys Büro entgegengenommen. Gott sei Dank war Alvaro schon zum Mittagessen gegangen, und ich war allein, sonst hätte ich die Tränen und das Zittern meiner Hände beim Halten des Hörers nur schwer erklären können.
Ich bedankte mich bei Señor Gutiérrez Fonseca für seinen Anruf mit der Förmlichkeit der verschlüsselten Gespräche. Kaum hatte ich aufgehängt, schloß ich die Bürotür und biß mir in die Fäuste, um nicht loszuschreien. Ich wusch mir das Gesicht und ging sogleich nach Hause, nachdem ich Alvaro eine Mitteilung hinterlassen hatte, ich sei krank und würde am nächsten Tag sehr früh kommen, um die Korrespondenz zu erledigen. Ich mußte mich zusammenreißen, damit ich auf der Straße nicht lief, sondern mit der grauen Bedächtigkeit dessen ging, der nichts zu verbergen hat. Als ich den Schlüssel ins Schloß der Wohnung steckte, sah ich, daß es aufgebrochen worden war. Ich war wie gelähmt. Von innen drehte sich langsam der Knauf. Ich fragte mich, ob ich nun so sterben müßte, in einem finsteren Treppenhaus und ohne zu wissen, was aus Miquel geworden war. Die Tür ging auf, und ich sah mich Julián Carax’ dunklem Blick gegenüber. Gott möge mir verzeihen, aber in diesem Augenblick dankte ich dem Himmel, daß er mir Julián statt Miquel zurückgegeben hatte.