»Ich bin ganz Ohr.« Ich trank den letzten Schluck Kaffee und schaute sie eine Weile wortlos an. Wie gern hätte ich in diesem scheuen Blick Zuflucht gesucht, den ich durchsichtig, leer befürchtet hatte. Ich dachte an die Einsamkeit, die mich an diesem Abend befallen würde, nachdem ich mich von ihr verabschiedet hätte, ohne weitere Tricks und Geschichten, um mir ihre Gesellschaft vorzugaukeln. Wie wenig hatte ich ihr zu bieten, und wieviel erwartete ich von ihr.
»Dein Hirn knarrt, Daniel«, sagte sie.
»Was heckst du aus?« Ich begann meine Erzählung mit dem weit zurückliegenden Morgen, an dem ich erwacht war, ohne mich ans Gesicht meiner Mutter erinnern zu können, und hielt nicht inne, bis ich zu der Dämmerwelt gelangte, die ich an diesem Morgen bei Nuria Monfort erahnt hatte. Bea hörte mir schweigend und mit einer Aufmerksamkeit zu, die weder Urteil noch Mutmaßung erkennen ließ. Ich erzählte ihr von meinem ersten Besuch im Friedhof der Vergessenen Bücher und von der Nacht, die ich mit der Lektüre von Der Schatten des Windes verbrachte. Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit dem Mann ohne Gesicht und von Penélope Aldayas Brief, den ich immer bei mir hatte, ohne zu wissen, warum. Ich erzählte ihr, daß ich es nie geschafft hatte, Clara Barceló zu küssen noch sonst eine Frau, und wie meine Hände gezittert hatten, als ich vor wenigen Stunden Nuria Monforts Lippen leichthin auf der Haut gespürt hatte. Ich erzählte ihr, daß ich bis dahin nicht begriffen hatte, daß das eine Geschichte von einsamen Menschen, von Abwesenheiten und Verlust war, und daß ich mich deshalb in sie hineingeflüchtet hatte, bis sie mit meinem eigenen Leben verschmolz, als entwischte ich aus den Seiten eines Romans.
»Sag nichts«, flüsterte Bea.
»Bring mich einfach an diesen Ort.« Es war schon dunkle Nacht, als wir in der Calle Arco del Teatro vor dem Portal des Friedhofs der Vergessenen Bücher stehenblieben. Ich packte den Klopfer mit dem Teufelchen und schlug ihn dreimal an. Es wehte ein kalter, stark nach Kohle riechender Wind. Wir warteten im Schutz des gewölbten Eingangs. Beas Gesicht war eine Handbreit von meinem entfernt. Kurz darauf hörte man im Innern leichte Schritte näher kommen und dann die müde Stimme des Aufsehers fragen:
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Isaac — Daniel Sempere.« Mir schien, ich hörte ihn leise fluchen. Dann folgte das tausendfache Knirschen und Knarren des Schlosses. Schließlich ging die Tür einige Zentimeter auf, und im Schein einer Öllampe erschien Isaac Monforts Adlergesicht. Als er mich erblickte, seufzte er und verdrehte die Augen.
»Ich weiß auch nicht, warum ich frage«, sagte er.
»Wer könnte es wohl zu dieser Stunde sonst sein?« Er war in etwas gehüllt, was mir wie eine merkwürdige Mischung aus Hausrock, Burnus und russischem Armeemantel vorkam. Die wattierten Pantoffeln paßten perfekt zu einer karierten Wollmütze mit Troddel.
»Hoffentlich habe ich Sie nicht aus dem Bett geholt«, sagte ich.
»I wo, ich habe eben erst mit dem ›Müde bin ich, geh zur Ruh‹ begonnen.« Er warf Bea einen Blick zu, als hätte er gerade eine brennende Dynamitpatrone zu ihren Füßen entdeckt.
»Ich hoffe zu Ihrem Besten, das ist nicht das, was es scheint«, drohte er.
»Isaac, das ist meine Freundin Beatriz, ich möchte ihr mit Ihrer Erlaubnis diesen Ort zeigen. Seien Sie unbesorgt, sie ist absolut vertrauenswürdig.«
»Sempere, ich habe Säuglinge mit mehr gesundem Menschenverstand gekannt als Sie.«
»Es ist ja nur für einen Augenblick.« Mit einem Schnauben gab er klein bei und nahm Bea ausgiebig in Augenschein.
»Wissen Sie schon, daß Sie sich in Gesellschaft eines Geistesschwachen befinden?« fragte er.Sie lächelte höflich.
»Ich mache mich langsam mit dem Gedanken vertraut.«
»Göttliche Unschuld. Kennen Sie die Regeln?« Sie nickte. Isaac schüttelte schweigend den Kopf, spähte wie immer nach Schattengestalten auf der Straße und ließ uns herein.
»Ich habe Ihre Tochter Nuria besucht«, warf ich hin.
»Es geht ihr gut. Sie hat viel zu tun, aber es geht ihr gut. Sie schickt Ihnen Grüße.«
»Ja, und Giftpfeile. Wie langweilig Sie sind, wenn Sie flunkern, Sempere. Aber das Bemühen sei verdankt. Los, kommen Sie.« Als wir drinnen waren, reichte er mir die Öllampe und riegelte wieder zu, ohne uns weiter zu beachten.
»Wenn Sie fertig sind, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.« Das Bücherlabyrinth war in geisterhaften Inseln zu erahnen, die sich unter dem Schleier der Dunkelheit zeigten. Die Lampe warf eine Blase dunstiger Helligkeit zu unseren Füßen. Sprachlos blieb Bea im Eingang zum Labyrinth stehen. Ich mußte lachen, weil ich auf ihrem Gesicht denselben Ausdruck erkannte, den mein Vater vor Jahren auf meinem gesehen haben mußte. Wir traten in die Tunnel und Galerien des Labyrinths, die unter unseren Schritten knarrten. Die Markierungen, die ich bei meinem letzten Besuch angebracht hatte, waren noch da.
»Komm, ich möchte dir etwas zeigen«, sagte ich.Mehr als einmal verlor ich meine eigene Spur, und wir mußten ein Stück zurückgehen, bis wir das letzte Zeichen wiederfanden. Bea beobachtete mich beunruhigt und zugleich fasziniert. Meine Erinnerung sagte mir, daß sich unser Weg in einer Spirale verloren hatte, doch schließlich konnte ich im Gewirr von Korridoren und Tunneln den richtigen Weg wiederfinden, und wir bogen in einen schmalen Gang ein, der aussah wie ein in die Schwärze hineinreichender Steg. Neben dem letzten Regal kniete ich nieder und suchte mein Buch, versteckt hinter der Reihe von Bänden, die unter einer im Licht der Lampe wie Rauhreif glänzenden Staubschicht begraben waren. Ich ergriff es und gab es Bea.
»Darf ich dir Julián Carax vorstellen?«
»Der Schatten des Windes«, las sie und strich über die goldenen Buchstaben des Umschlags.
»Kann ich es mitnehmen?« fragte sie.
»Jedes außer diesem.«
»Aber das ist ungerecht. Nach allem, was du mir erzählt hast, möchte ich gerade dieses.«
»Ein andermal vielleicht. Aber heute nicht.« Ich nahm es ihr aus den Händen und verwahrte es wieder an seinem Ort.
»Ich werde ohne dich zurückkommen und es mitnehmen, und du wirst nichts davon erfahren«, spottete sie.
»Du würdest es in tausend Jahren nicht finden.«
»Das meinst bloß du. Ich habe deine Markierungen schon gesehen und kenne auch die Geschichte vom Minotaurus.«
»Isaac würde dich nicht reinlassen.«
»Da irrst du dich. Ich bin ihm sympathischer als du.«
»Woher willst du denn das wissen?«
»Ich kann Blicke lesen.« Gegen meinen Willen glaubte ich ihr und schaute weg.
»Nimm irgendein anderes. Schau, das hier klingt vielversprechend. Das Hochlandschwein, das unbekannte Wesen — Auf der Suche nach den Wurzeln der iberischen Sau, von Anselmo Torquemada. Davon sind bestimmt mehr Exemplare verkauft worden als von jedem Roman von Julián Carax. Vom Schwein kann man alles brauchen.«
»Das andere da macht mich mehr an.«
»Tess of the d’Urbervilles. Es ist die Originalausgabe. Wagst du dich auf englisch an Thomas Hardy ran?« Sie schaute mich mißbilligend an.
»Es ist dein.«
»Na also. Es scheint doch ganz, als würde es auf mich warten. Als wäre es seit vor meiner Geburt für mich hier versteckt gewesen.« Verdutzt schaute ich sie an. Sie verzog den Mund zu einem Lächeln.
»Was habe ich denn gesagt?« Da küßte ich sie, ohne nachzudenken, leicht auf die Lippen.Es war nahezu Mitternacht, als wir vor ihrer Haustür ankamen. Wir hatten fast den ganzen Weg schweigend zurückgelegt, da wir nicht auszusprechen wagten, was wir dachten. Wir gingen getrennt, verbargen uns voreinander. Mit ihrer Tess unter dem Arm schritt Bea kerzengerade dahin, und ich folgte ihr eine Spanne zurück, die Berührung des Kusses auf den Lippen. Noch spürte ich Isaacs Blick beim Verlassen des Friedhofs der Vergessenen Bücher. Es war ein Blick, den ich gut kannte, den ich tausendmal bei meinem Vater gesehen hatte, ein Blick, der mich fragte, ob ich eigentlich die leiseste Ahnung habe, was ich tue. Die letzten Stunden hatten sich in einer andern Welt abgespielt, einer Welt von Blicken, die ich nicht begriff und die mir den Verstand raubten. Jetzt, auf dem Rückweg in die Wirklichkeit des EnsancheViertels, löste sich der Bann, und ich empfand nur noch schmerzliches Verlangen und namenlose Unruhe. Ein bloßer Blick auf Bea zeigte mir, daß der Sturm auch sie durcheinandergebracht hatte. Wir blieben vor der Tür stehen und schauten uns an, ohne uns auch nur im geringsten zu verstellen. Ein sangesfreudiger Nachtwächter kam gemächlich näher und trällerte Boleros, wozu er sich mit dem angenehmen Geklingel seiner Schlüsselbüschel begleitete.