»Vielleicht wäre es dir lieber, wenn wir uns nicht mehr sehen«, sagte ich ohne Überzeugung.
»Ich weiß nicht, Daniel. Ich weiß gar nichts. Möchtest du das wirklich?«
»Nein, natürlich nicht. Und du?« Sie zuckte die Schultern.
»Was glaubst du denn?« fragte sie.
»Vorher habe ich dich belogen, im Kreuzgang.«
»Womit?«
»Daß ich dich heute nicht sehen wollte.« Der Nachtwächter ging mit einem flüchtigen Lächeln um uns herum, scheinbar gleichgültig gegenüber meiner ersten Haustürturtelszene, die einem so alten Fuchs banal und abgedroschen erscheinen mußte.
»Meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu beeilen«, sagte er.
»Ich werde an der Ecke mal ein Zigarettchen schmauchen, Sie können mir dann sagen, wenn’s soweit ist.« Ich wartete, bis er vorbei war.
»Wann werde ich dich wiedersehen?«
»Ich weiß es nicht, Daniel.«
»Morgen?«
»Bitte, Daniel. Ich weiß es nicht.« Ich nickte. Sie fuhr mir mit den Fingern zärtlich übers Gesicht.
»Besser, du gehst jetzt.«
»Weißt du wenigstens, wo du mich finden kannst?« Sie nickte.
»Ich werde warten.«
»Ich auch.« Als ich ging, kam bereits der Nachtwächter daher, um aufzuschließen.
»Schamloser Kerl«, flüsterte er mir im Vorbeigehen zu, nicht ohne eine gewisse Bewunderung.
»Wirklich ein süßer Käfer.« Ich wartete, bis Bea im Haus verschwunden war, und ging dann leichten Schrittes davon, immer wieder zurückschauend. Langsam beschlich mich die absurde Gewißheit, daß alles möglich war, und ich hatte das Gefühl, selbst diese menschenleeren Straßen und der feindliche Wind rochen nach Hoffnung. Als ich zur Plaza de Cataluña kam, sah ich, daß sich in der Mitte ein Taubenschwarm versammelt hatte. Sie ließen keine Handbreit Boden frei, ein Schleier weißer Flügel, die sich lautlos wiegten. Zuerst wollte ich um sie herumgehen, aber genau in diesem Moment sah ich, daß sich der Schwarm vor mir auftat, ohne aufzufliegen. Ich ging langsam weiter und sah, daß die Tauben hinter mir wieder zusammenrückten. Im Zentrum des Platzes angekommen, hörte ich die Glocken der Kathedrale Mitternacht schlagen. Ich blieb einen Augenblick stehen, mitten in einem Meer silberner Vögeclass="underline" Das war der merkwürdigste und wunderbarste Tag meines Lebens gewesen.
8
Als ich vor dem Schaufenster der Buchhandlung vorbeiging, sah ich, daß noch Licht brannte. Vielleicht war mein Vater so lange aufgeblieben, um die Korrespondenz à jour zu bringen oder unter sonst einem Vorwand, um auf mich zu warten und mich über meine Verabredung mit Bea auszufragen. Ich sah jemanden einen Bücherstapel aufbauen und erkannte Fermíns hagere, sehnige Gestalt. Ich klopfte an die Schaufensterscheibe. Angenehm überrascht schaute er von seiner konzentrierten Arbeit auf und bedeutete mir, durch den Hintereingang einzutreten.
»Noch immer bei der Arbeit, Fermín? Es ist doch schon so spät.«
»Eigentlich habe ich mir nur die Zeit vertrieben, um nachher zu dem armen Don Federico zu gehen und bei ihm zu wachen. Eloy vom Optikerladen und ich haben einen Schichtdienst eingerichtet. Ich schlafe ja sowieso nicht sehr viel, höchstens zwei, drei Stunden. Natürlich sind auch Sie nicht untätig gewesen, Daniel. Mitternacht ist vorbei, und daraus schließe ich, daß Ihr Treffen mit dem jungen Mädchen ein grandioser Erfolg gewesen ist.« Ich zuckte die Schultern.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
»Haben Sie sie betatscht?«
»Nein.«
»Ein gutes Zeichen. Trauen Sie nie einer Frau, die sich so ohne weiteres befingern läßt. Aber noch weniger denen, die einen Geistlichen brauchen, um die Zustimmung einzuholen. Das Filet, wenn der Fleischvergleich erlaubt ist, ist am besten halb durchgebraten. Natürlich, wenn es sich ergibt, sollen Sie auch kein Duckmäuser sein, sondern die Gelegenheit nutzen. Aber wenn das, was Sie suchen, etwas Ernstes ist, wie bei mir mit der Bernarda, dann denken Sie an diese goldene Regel.«
»Ist es denn ernst bei Ihnen?«
»Mehr als ernst. Spirituell. Und mit diesem Mädchen, Beatriz? Daß sie ein Bild von einer Frau ist, springt ja ins Auge, aber der entscheidende Punkt ist: Gehört sie zu denen, die einem minderjährigen Bürschchen die Eingeweide in Aufruhr bringen?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Schauen Sie, Daniel, das ist wie bei einer Magenverstimmung. Spüren Sie da etwas, im Magenmund? So, als hätten Sie einen Ziegelstein verschluckt? Oder ist es nur ein allgemeines Fieber?«
»Eher ein Ziegelstein«, sagte ich, obwohl ich auch das Fieber nicht ganz ausschließen konnte.
»Dann ist die Sache ernst. Gott steh Ihnen bei. Los, nehmen Sie Platz, ich mache Ihnen einen Lindenblütentee.« Wir setzten uns an den Tisch im Hinterraum, umgeben von Büchern und Stille. Fermín reichte mir eine dampfende Tasse und lächelte ein wenig verlegen. Irgend etwas ging ihm durch den Kopf.
»Darf ich Sie etwas fragen, Daniel, etwas, was meine Person betrifft?«
»Ja, natürlich.«
»Ich bitte Sie, ganz ehrlich zu antworten.« Er räusperte sich.
»Finden Sie, ich könnte Vater sein?« Er mußte die Verdutztheit in meinem Gesicht gelesen haben und fügte eilig hinzu:
»Ich meine nicht Vater im biologischen Sinn, ich meine Vater in einem andern Sinn — ein guter Vater, Sie wissen schon.«
»Ein guter Vater?«
»Ja, so wie Ihrer. Ein Mann mit Kopf, Herz und Seele. Ein Mann, der in der Lage ist, einem Kind zuzuhören, es zu führen und zu achten, und nicht seine eigenen Fehler auf es überträgt. Jemand, den ein Kind nicht nur liebt, weil er sein Vater ist, sondern den es als Menschen bewundert. Jemand, dem es ähnlich sein möchte.«
»Warum fragen Sie mich das, Fermín? Ich dachte, Sie glauben nicht an Ehe und Familie. Das Joch und so, erinnern Sie sich?« Er nickte.
»Schauen Sie, Ehe und Familie sind nicht mehr und nicht weniger als das, was wir daraus machen. Wenn echte Liebe da ist, eine Liebe, die man nicht in alle Himmelsrichtungen ausposaunt, sondern die man spürt und sich gegenseitig zeigt…«
»Sie klingen ja wie ein ganz neuer Mensch, Fermín.«
»Ich klinge nicht nur so. Die Bernarda hat in mir den Wunsch geweckt, ein besserer Mensch zu werden.«
»Wozu denn das?«
»Um ihrer würdig zu sein. Sie sagt es zwar nicht ausdrücklich, aber ich glaube, das größte Glück, das sie in diesem Leben haben könnte, wäre es, Mutter zu sein. Und ich habe diese Frau lieber als Pfirsichkompott. Ich brauche Ihnen bloß zu sagen, daß ich imstande bin, nach zweiunddreißig Jahren klerikaler Enthaltsamkeit für sie durch eine Kirche zu gehen und die Psalmen zu rezitieren oder was auch immer.«