»Der von Penélope unterschriebene Brief, den er nie bekommt, beweist, daß die junge Frau zu diesem Zeitpunkt bei sich zu Hause eingeschlossen ist, aus wenig klaren Gründen Gefangene ihrer Familie, und daß die Freundschaft zwischen Aldaya und Carax zu Ende ist. Ja, wie uns Penélope erzählt, hat ihr Bruder Jorge geschworen, seinen ehemaligen Freund Julián umzubringen, wenn er ihn noch einmal sieht. Starke Worte für das Ende einer Freundschaft. Man braucht nicht Sherlock Holmes zu sein, um daraus zu schließen, daß der Streit eine direkte Folge der Beziehung zwischen Penélope und Carax ist.« Kalter Schweiß bedeckte mir die Stirn. Ich spürte, wie mir der Milchkaffee und die paar Bissen, die ich zu mir genommen hatte, den Hals heraufkrochen.
»Trotzdem müssen wir annehmen, daß Carax nie erfährt, was mit Penélope geschehen ist, denn der Brief gelangt nicht in seine Hände. Sein Leben verliert sich in den Nebeln von Paris, wo er ein geisterhaftes Dasein entfalten wird zwischen seiner Anstellung als Pianist in einem Animierlokal und einer erbärmlichen Karriere als erfolgloser Romancier. Diese Pariser Jahre sind ein Geheimnis. Alles, was von ihnen bleibt, ist ein vergessenes, womöglich verschwundenes literarisches Œuvre. Wir wissen, daß er irgendwann beschließt, eine rätselhafte vermögende Dame zu heiraten, die doppelt so alt ist wie er. Diese Ehe, wenn wir uns an die Zeugnisse halten, scheint eher ein Akt der Nächstenliebe oder der Freundschaft von Seiten einer kranken Dame zu sein als ein romantisches Abenteuer. Besorgt um die wirtschaftliche Zukunft ihres Protegés, beschließt die Mäzenin offensichtlich, ihm ihr Vermögen zu vermachen und sich von dieser Welt mit einem Koitus ad maiorem gloriam der Künste zu verabschieden. So sind die Pariser.«
»Vielleicht war es echte Liebe«, sagte ich mit hauchdünner Stimme.
»Sagen Sie, Daniel, geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ja kreideweiß und schwitzen entsetzlich.«
»Es geht mir ausgezeichnet«, log ich.
»Also, weiter im Text. Die Liebe ist wie die Wurst: Es gibt Schweinefiletwurst, und es gibt Mortadella. Alles hat seinen Platz und seine Funktion. Carax hatte erklärt, er fühle sich keiner Art von Liebe würdig, und tatsächlich ist uns nichts bekannt von irgendeiner Romanze aus seinen Pariser Jahren. Natürlich, da er in einem Bordell gearbeitet hat, konnte er seine primäre Glut der Instinkte vielleicht durch Fraternisieren mit den dortigen Angestellten befriedigen, sozusagen als Bonus oder Nießnutz. Aber das ist reine Spekulation. Kehren wir zu dem Moment zurück, wo die Eheschließung zwischen Carax und seiner Beschützerin angekündigt wird. Jetzt erscheint Jorge Aldaya wieder auf der Bildfläche dieser undurchsichtigen Geschichte. Wir wissen, daß er mit Carax’ Verleger in Barcelona Kontakt aufnimmt, um den Aufenthaltsort des Romanautors zu erfahren. Kurz darauf, am Morgen seines Hochzeitstags, schlägt sich Julián Carax in einem Duell mit einem Unbekannten auf dem Friedhof Père Lachaise und verschwindet. Die Hochzeit findet niemals statt. Von da an wird alles unklar.« Fermín schaltete eine dramatische Pause ein und warf mir seinen Spionagefilmblick zu.
»Vermutlich geht Carax über die Grenze, und um einmal mehr seinen sprichwörtlichen Sinn für die goldrichtige Gelegenheit zu beweisen, kehrt er 1936 nach Barcelona zurück, genau bei Ausbruch des Bürgerkriegs. Was er in diesen Wochen in Barcelona unternimmt und wo er sich aufhält, ist nicht bekannt. Wir vermuten, er bleibt einen Monat in der Stadt und setzt sich in dieser Zeit mit keinem seiner Bekannten in Verbindung, weder mit seinem Vater noch mit seiner Freundin Nuria Monfort. Kurze Zeit später findet man ihn erschossen auf der Straße auf. Und unverzüglich erscheint ein unheilvoller Zeitgenosse, der sich als Laín Coubert ausgibt, ein Name, den er bei einer Figur aus Carax’ letztem Roman ausleiht, die, um das Maß vollzumachen, niemand anders ist als der Höllenfürst. Der mutmaßliche Teufel ist entschlossen, das wenige, was von Carax bleibt, verschwinden zu lassen und seine Bücher für immer zu vernichten. Um das Melodrama abzurunden, erscheint er als Mann ohne Gesicht, durchs Feuer entstellt. Ein Bösewicht, einer Schauermär entsprungen, bei dem, um alles noch vollends zu komplizieren, Nuria Monfort Jorge Aldayas Stimme zu erkennen glaubt.«
»Ich erinnere Sie daran, daß mich Nuria Monfort belogen hat«, sagte ich.
»Gewiß, aber auch wenn sie Sie belogen hat, hat sie es möglicherweise eher durch Auslassen getan und vielleicht, um sich selbst aus den Ereignissen herauszuhalten. Es gibt wenig Gründe, die Wahrheit zu sagen, aber unendlich viele, um zu lügen. Sagen Sie, geht es Ihnen auch wirklich gut? Ihr Gesicht hat die Farbe von galicischem Tetillakäse.« Ich schüttelte den Kopf und sauste Richtung Toilette davon.Ich erbrach das Frühstück, das Abendessen und einen guten Teil der Wut, die ich verspürte. Ich wusch mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser und betrachtete mein Bild in dem trüben Spiegel, auf den jemand mit Wachsstift gekritzelt hatte:
»Girón, du Schwein«. Wieder am Tisch, stellte ich fest, daß Fermín an der Theke stand und mit unserem Kellner über Fußball diskutierte, während er die Rechnung bezahlte.
»Geht’s besser?« fragte er.Ich nickte.
»Das ist ein Blutdruckabfall«, sagte er.
»Da, nehmen Sie ein Lutschbonbon, das kuriert alles.« Als wir das Café verließen, beharrte er darauf, mit dem Taxi zur San-Gabriel-Schule zu fahren und uns die UBahn für einen andern Tag aufzuheben, mit dem Argument, es sei ein Morgen wie im Bilderbuch und die Tunnel seien für die Ratten.
»Ein Taxi nach Sarriá kostet ein Vermögen«, warf ich ein.
»Das übernimmt die Berufskasse der Idioten«, sagte er.
»Der Patriot da hat sich im Wechselgeld vertan, und wir haben ein gutes Geschäft gemacht. Und in Ihrem Zustand ist eine Reise unter Tag nichts für Sie.« Derart mit unrechtmäßigen Mitteln versehen, stellten wir uns unten an der Rambla de Cataluña an eine Ecke und warteten auf ein Taxi. Wir mußten einige vorbeifahren lassen, denn Fermín erklärte, wenn er schon einmal in ein Auto steige, müsse es zumindest ein Studebaker sein. Erst nach einer Viertelstunde erschien ein ihm zusagendes Fahrzeug, das er mit aufgeregtem Fuchteln stoppte. Er wollte unbedingt auf dem Vordersitz fahren, was ihm Gelegenheit gab, sich in eine Diskussion über das Gold von Moskau und Josef Stalin einzulassen, der des Fahrers Idol und geistiger Führer auf Distanz war.
»In diesem Jahrhundert hat es drei große Figuren gegeben: Dolores Ibárruri, Manolete und Josef Stalin«, verkündete der Fahrer, entschlossen, uns mit einer detaillierten Hagiographie des illustren Genossen zu beglücken.Ich saß bequem auf dem Rücksitz, ohne mich an dem Gespräch zu beteiligen, und genoß durchs offene Fenster die frische Luft. Fermín, begeistert von der Spazierfahrt im Studebaker, animierte den Fahrer mit gezielten Fragen.
»Nun, ich habe gehört, seit er einen Mispelkern verschluckt hat, leidet er gräßlich an der Prostata und kann jetzt nur noch urinieren, wenn man ihm die Internationale vorsingt«, warf Fermín hin.
»Faschistische Propaganda«, entgegnete der Fahrer.
»Der Genosse pißt wie ein Stier. Mit so ’ner Wassermenge kann selbst die Wolga nicht aufwarten.« Diese angeregte Debatte begleitete uns auf der ganzen Fahrt durch die Vía Augusta zum höhergelegenen Teil der Stadt. Es wurde immer heller, und eine frische Brise überzog den Himmel mit tiefem Blau. Als wir zur Calle Ganduxer gelangten, bog der Fahrer rechts ein, und gemächlich fuhren wir zum Paseo de la Bonanova hinauf.Die San-Gabriel-Schule erhob sich baumumstanden am oberen Ende einer engen Straße, die sich von der Bonanova heraufschlängelte. Die mit dolchförmigen Fenstern gespickte Fassade betonte das Profil eines gotischen Palastes aus rotem Backstein und schien zwischen Bogen und Türmen zu schweben, die in kathedralähnlichen Grannen über die Wipfel der Platanen aufragten. Wir stiegen aus und betraten einen dichtbewachsenen Garten voller Brunnen, aus denen sich verrostete Putten erhoben, und durchflochten von steinernen Pfaden, die zwischen den Bäumen hinanführten. Auf dem Weg zum Haupteingang setzte mich Fermín mit einer seiner Lektionen zur Sozialgeschichte über die Institution ins Bild.