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»Obwohl sie Ihnen jetzt wie Rasputins Mausoleum erscheinen mag, war die San-Gabriel-Schule seinerzeit eines der angesehensten und exklusivsten Institute von ganz Barcelona. In den Zeiten der Republik ist sie heruntergekommen, denn die damaligen Neureichen, die neuen Industriellen und Bankiers, deren Sprößlingen man jahrelang einen Platz verweigert hatte, weil ihre Namen nach Neu rochen, beschlossen, ihre eigenen Schulen zu gründen, wo man sie respektvoll behandelte und wo sie ihrerseits anderer Leute Kindern einen Platz verweigern konnten. Das Geld ist wie jedes andere Virus: Sobald die Seele dessen, der es hortet, verfault, macht es sich auf die Suche nach frischem Blut. In dieser Welt währt ein Name weniger lange als eine Zuckermandel. In ihren guten Zeiten, also mehr oder weniger zwischen 1880 und 1930, nahm die San-Gabriel-Schule die Crème de la crème der verwöhnten Kinder aus altem Adel und mit klingender Börse auf. Die Aldayas und Konsorten kamen als Internatsschüler an diesen düsteren Ort, um sich mit ihresgleichen zu verbrüdern, die Messe zu hören und Geschichte zu lernen, damit sie sie auf diese Weise ad nauseam wiederholen konnten.«

»Aber Julián Carax war nicht unbedingt einer von ihnen«, bemerkte ich.

»Nun, manchmal bieten diese vortrefflichen Institutionen für die Kinder des Gärtners oder eines Schuhputzers ein oder zwei Stipendien an, um so ihre Geisteserhabenheit und christliche Großherzigkeit zu demonstrieren. Die wirkungsvollste Art, die Armen unschädlich zu machen, besteht darin, daß man sie lehrt, die Reichen imitieren zu wollen. Das ist das Gift, und damit blendet der Kapitalismus die…«

»Pst, Fermín, wenn einer dieser Geistlichen Sie hört, wird man uns rausschmeißen«, unterbrach ich ihn leise, als ich sah, daß uns oben auf der Treppe, die zum Schulportal emporführte, zwei Priester mit einer Mischung aus Neugier und Reserviertheit beobachteten, und ich fragte mich, ob sie wohl von unserem Gespräch etwas mitbekommen hatten.Einer von ihnen kam mit höflichem Lächeln und bischöflich auf der Brust gefalteten Händen auf uns zu. Er mußte etwa fünfzig sein, und seine schlanke Gestalt und das schüttere Haar ließen ihn wie einen Raubvogel aussehen. Er hatte einen durchdringenden Blick und roch nach frischem Kölnisch Wasser und Mottenpulver.

»Guten Morgen. Ich bin Pater Fernando Ramos«, verkündete er.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« Fermín reichte ihm die Hand, die der Priester, in sein eisiges Lächeln gehüllt, kurz studierte, ehe er sie drückte.

»Fermín Romero de Torres, bibliographischer Berater von Sempere und Sohn, höchst erfreut, Ihre fromme Exzellenz zu grüßen. Hier zu meiner Seite befindet sich mein Mitarbeiter und zugleich Freund Daniel, ein junger Mann mit großer Zukunft und von ausgewiesen christlichem Wesen.« Pater Fernando betrachtete uns, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich wäre am liebsten im Erdboden verschwunden.

»Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Señor Romero de Torres«, antwortete er gallig.

»Darf ich Sie fragen, was dieses großartige Duo zu unserer bescheidenen Anstalt führt?« Ich beschloß einzugreifen, ehe Fermín dem Priester eine weitere Ungeheuerlichkeit auftischte und wir uns eiligst davonmachen müßten.

»Pater Fernando, wir versuchen zwei ehemalige Schüler der San-Gabriel-Schule zu finden: Jorge Aldaya und Julián Carax.« Pater Fernando preßte die Lippen zusammen und zog eine Braue in die Höhe.

»Julián ist vor über fünfzehn Jahren gestorben, und Aldaya ist nach Argentinien ausgewandert«, sagte er knapp.

»Haben Sie sie gekannt?« fragte Fermín.Der sezierende Blick des Priesters verweilte auf jedem von uns, bevor er antwortete.

»Wir waren Klassenkameraden. Darf ich fragen, woher Ihr Interesse rührt?« Ich dachte eben darüber nach, wie wir diese Frage beantworten sollten, da kam mir Fermín zuvor.

»Es ist so, daß uns eine Anzahl Dinge in die Hände gelangt sind, die den beiden Erwähnten gehören oder gehörten — in diesem Punkt ist die Rechtsprechung ja unklar.«

»Und welcher Natur sind die besagten Dinge, wenn die Frage gestattet ist?«

»Ich bitte Euer Gnaden, unser Schweigen zu akzeptieren, denn bei diesem Gegenstande gibt es, so wahr Gott lebt, nur zu viele Gründe des Bedenkens und Verschweigens, die nichts mit dem allerhöchsten Vertrauen zu tun haben, das uns Ihre Exzellenz und der Orden, den Sie so würdevoll und fromm vertreten, abverdienen«, sagte Fermín in rasendem Tempo.Pater Fernando schaute ihn an, beinahe erstarrt. Ich beschloß, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen, bevor Fermín zu Atem käme.

»Die von Señor Romero de Torres angesprochenen Dinge sind familiärer Natur, Andenken und Gegenstände von ausschließlich gefühlsmäßigem Wert. Worum wir Sie bitten möchten, Pater, wenn es Ihnen nicht allzuviel ausmacht, ist, daß Sie uns von Ihren Erinnerungen an Julián und Aldaya aus der Schulzeit erzählen.« Noch immer betrachtete uns Pater Fernando argwöhnisch. Es lag auf der Hand, daß ihm die Erklärungen, die wir ihm gegeben hatten, nicht ausreichten, um unser Interesse zu rechtfertigen und ihn zur Mitwirkung zu gewinnen. Ich warf Fermín einen hilfesuchenden Blick zu, damit er irgendeine List fände, um den Pater herumzukriegen.

»Wissen Sie, daß Sie ein wenig Julián gleichen, als er jung war?« fragte mich der Pater unversehens.Fermíns Blick leuchtete auf. Was hat er bloß vor, dachte ich.

»Sie sind ein Fuchs, Hochwürden«, rief Fermín mit gespieltem Erstaunen.

»Ihr Scharfsinn hat uns erbarmungslos demaskiert. Sie werden es mindestens zum Kardinal oder Papst bringen.«

»Wovon reden Sie?«

»Ist es denn nicht eindeutig und offensichtlich, Eminenz?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Dürfen wir mit dem Beichtgeheimnis rechnen?«

»Das ist ein Garten, kein Beichtstuhl.«

»Es genügt uns Ihre geistliche Diskretion.«

»Die haben Sie.« Fermín seufzte tief und schaute mich melancholisch an.

»Daniel, wir dürfen diesen heiligen Soldaten Christi nicht weiter belügen.«

»Natürlich nicht…«, bekräftigte ich völlig verwirrt.Fermín trat nahe an den Priester heran und flüsterte ihm vertraulich zu:

»Pater, wir haben felsenfeste Gründe zur Annahme, daß unser Freund Daniel da nichts anderes ist als ein heimlicher Sohn des verblichenen Julián Carax. Daher unser Interesse, seine Vergangenheit zu rekonstruieren und die Erinnerung an einen abwesenden bedeutenden Mann wiederzuerlangen, den die Parze von der Seite eines armen Jungen zu reißen für gut befunden hat.« Verdutzt starrte mich der Pater an.

»Trifft das zu?« Ich nickte. Tief betrübt klopfte mir Fermín auf die Schulter.

»Schauen Sie das arme Bürschchen an, wie es einen im Nebel der Erinnerung verschwundenen Vater sucht. Was kann es Traurigeres geben als das, können mir das Eure heilige Magnifizenz verraten?«

»Haben Sie Beweise, die Ihre Behauptungen untermauern?« Fermín packte mich am Kinn und bot mein Gesicht als Zahlungsmittel dar.

»Welchen weiteren Beweis begehren Monsignore noch als dieses Antlitz, stummer, beweiskräftiger Zeuge des fraglichen Vaterschaftsakts?« Der Priester schien zu schwanken.

»Werden Sie mir helfen, Pater?« flehte ich verschlagen.

»Bitte…« Pater Fernando seufzte unbehaglich.

»Ich sehe nichts Böses dabei, denke ich«, sagte er schließlich.

»Was wollen Sie wissen?«

»Alles«, sagte Fermín.

11

Pater Fernandos Zusammenfassung seiner Erinnerungen hatte einen gewissen Predigtton. Mit meisterhafter Knappheit konstruierte er seine stilreinen Sätze und erfüllte sie mit einem Rhythmus, der gleichsam als Zugabe eine unausgesprochene Moral einzuschließen schien. In jahrelangem Lehrerdasein hatte er sich diesen bestimmten, didaktischen Ton eines Mannes erworben, der es gewohnt ist, daß man ihn vernimmt, der sich aber fragt, ob man ihm auch zuhört.