»Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, ist Julián Carax 1914 in die San-Gabriel-Schule eingetreten. Ich habe mich sogleich zu ihm hingezogen gefühlt — wir gehörten beide zu der kleinen Gruppe Schüler, die nicht aus vermögenden Familien stammten. Man hat uns das Hungerleiderkommando genannt. Jeder von uns beiden hatte seine eigene Geschichte. Ich hatte ein Stipendium für einen Platz bekommen, weil mein Vater fünfundzwanzig Jahre lang in der Küche dieses Hauses gearbeitet hatte. Julián war dank der Fürsprache von Señor Aldaya aufgenommen worden, der Kunde des Hutladens Fortuny war, welcher Juliáns Vater gehörte. Natürlich waren das andere Zeiten, damals hat sich die Macht noch in einzelnen Familien und Dynastien konzentriert. Das ist eine verschwundene Welt, deren letzte Überbleibsel die Republik weggeschwemmt hat, zum Guten vermutlich, und von ihr sind nur diese Namen im Briefkopf gesichtsloser Unternehmen, Banken und Konsortien geblieben. Wie alle alten Städte ist auch Barcelona eine Summe von Ruinen. Die großen Herrlichkeiten, deren sich viele brüsten, Paläste, Faktoreien und Monumente, Insignien, mit denen wir uns identifizieren, sind bloß noch Leichen, Reliquien einer untergegangenen Zivilisation.«
An diesem Punkt schaltete Pater Fernando eine feierliche Pause ein, als erwarte er von der Gemeinde ein paar lateinische Brocken zur Antwort.
»Ja und amen, Ehrwürden. Was für eine bedeutsame Wahrheit«, sagte Fermín, um das unangenehme Schweigen zu überbrücken.
»Sie haben uns vom ersten Jahr meines Vaters in der Schule erzählt«, bemerkte ich sanft.Pater Fernando nickte.
»Schon damals hat er sich Carax genannt, obwohl sein erster Name Fortuny war. Anfänglich haben ihn einige Jungs deswegen gehänselt — und natürlich weil er einer des Hungerleiderkommandos war. Sie haben sich auch über mich lustig gemacht, weil ich der Sohn des Kochs war. Sie wissen ja, wie Kinder sind. Im Grunde ihres Herzens hat Gott sie mit Güte erfüllt, aber sie wiederholen eben, was sie zu Hause hören.«
»Unschuldige Kinderchen«, sagte Fermín.
»Was wissen Sie noch von meinem Vater?«
»Nun, das ist schon so lange her… Der beste Freund Ihres Vaters war damals nicht Jorge Aldaya, sondern ein Junge namens Miquel Moliner. Miquel kam aus einer fast so reichen Familie wie die Aldayas, und ich würde mich zu der Aussage versteigen, er sei der verrückteste Schüler gewesen, den man hier je gesehen hat. Der Rektor glaubte, er sei vom Teufel besessen, weil er während der Messe immer Marx auf deutsch rezitiert hat.«
»Eindeutiges Zeichen von Besessenheit«, bestätigte Fermín.
»Miquel und Julián haben sich gut verstanden. Manchmal haben wir uns in der Mittagspause zu dritt getroffen, und Julián hat uns Geschichten erzählt. Andere Male hat er von seiner Familie und den Aldayas berichtet…« Der Priester schien zu zögern.
»Auch nach dem Verlassen der Schule sind Miquel und ich noch eine Zeitlang in Kontakt geblieben. Damals war Julián bereits nach Paris gegangen. Ich weiß, daß sich Miquel nach ihm gesehnt hat, und oft hat er von ihm gesprochen und sich an Geheimnisse erinnert, die Julián ihm vor Zeiten anvertraut hatte. Als ich dann ins Priesterseminar ging, sagte Miquel, ich sei zum Feind übergetreten. Das war zwar scherzhaft gemeint, aber Tatsache ist, daß wir uns auseinandergelebt haben.«
»Haben Sie davon gehört, daß Miquel eine gewisse Nuria Monfort geheiratet hat?«
»Miquel, geheiratet?«
»Erstaunt Sie das?«
»Vermutlich sollte es nicht, aber… Ich weiß nicht. Ich habe wirklich seit vielen Jahren nichts mehr von ihm gehört. Seit vor dem Krieg.«
»Hat er Ihnen gegenüber einmal den Namen Nuria Monfort erwähnt?«
»Nein, nie. Und auch nichts von einer Heirat oder daß er eine Freundin hatte… Hören Sie, ich bin mir gar nicht sicher, ob ich Ihnen das alles erzählen darf. Das sind Dinge, die mir Julián und Miquel unter vier Augen mitgeteilt haben, im stillen Einverständnis, daß sie unter uns bleiben würden…«
»Wollen Sie einem Sohn die einzige Möglichkeit versagen, die Erinnerung an seinen Vater wiederzuerlangen?« fragte Fermín.Pater Fernando schien zwischen dem Zweifel und, wie mir schien, dem Wunsch nach Erinnerung hin und her gerissen, danach, diese verlorenen Tage Wiederaufleben zu lassen.
»Vermutlich sind so viele Jahre vergangen, daß es keine Rolle mehr spielt. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Julián uns erklärt hat, wie er die Aldayas kennengelernt und wie das unmerklich sein Leben verändert hatte…«
…An einem Oktobernachmittag des Jahres 1914 machte vor dem Hutladen Fortuny in der Ronda de San Antonio ein Objekt halt, das viele für eine rollende Familiengruft hielten. Ihm entstieg die majestätisch-arrogante Gestalt Don Ricardo Aldayas, schon damals einer der reichsten Männer nicht nur Barcelonas, sondern Spaniens, dessen Textilindustrieimperium sich in Zitadellen und Kolonien längs der Flüsse von ganz Katalonien hinzog. Seine Rechte hielt die Zügel des Bankwesens und Grundbesitzes der halben Provinz, während die Linke unermüdlich die Fäden von Abgeordnetenversammlung, Rathaus, mehreren Ministerien, Bistum und Hafenzollbehörden zog.
An diesem Nachmittag benötigte das jedermann einschüchternde, entblößte Haupt mit dem üppigen Schnurr- und dem königlichen Backenbart einen Hut. Aldaya trat in Antoni Fortunys Laden, und nachdem er einen flüchtigen Blick auf die Einrichtung geworfen hatte, schaute er aus dem Augenwinkel den Hutmacher und seinen Gehilfen, den jungen Julián, an und sprach folgendes:
»Wie ich höre, kommen von hier entgegen jedem Anschein die besten Hüte Barcelonas. Der Oktober sieht übel aus, und ich werde sechs Zylinder, ein Dutzend Melonen und mehrere Jagdmützen brauchen sowie etwas, was ich im Parlament in Madrid tragen kann. Schreiben Sie es sich auf, oder muß ich es Ihnen wiederholen?« Das war der Beginn eines langwierigen — und lukrativen — Prozesses, in dem Vater und Sohn mit vereinten Kräften Don Ricardo Aldayas Bestellung anfertigten. Julián, der die Zeitung zu lesen pflegte, wußte um Aldayas Stellung und sagte sich, er könne seinen Vater jetzt, im entscheidenden Moment seines Geschäfts, nicht im Stich lassen. Seit der Potentat seinen Laden betreten hatte, schwebte der Hutmacher vor Wonne. Aldaya hatte versprochen, wenn er an der Ausführung Gefallen finde, werde er den Laden in seinem ganzen Bekanntenkreis weiterempfehlen. Das bedeutete, daß der Hutladen Fortuny vom ehrbaren, aber bescheidenen Geschäft den Sprung in die höchsten Kreise machen und groß- und kleinköpfige Abgeordnete, Bürgermeister, Kardinäle und Minister behuten würde. Die Tage dieser Woche vergingen wie im Traum. Julián blieb der Schule fern und arbeitete achtzehn und zwanzig Stunden täglich im Atelier hinter dem Laden. Ganz begeistert umarmte ihn sein Vater ab und zu und küßte ihn sogar, ohne es zu merken. Ja er schenkte seiner Frau Sophie zum ersten Mal in vierzehn Jahren ein Kleid und ein Paar neue Schuhe. Der Hutmacher war nicht wiederzuerkennen. Am Sonntag vergaß er, zur Messe zu gehen, und am selben Nachmittag schloß er Julián mit stolzgeschwellter Brust in die Arme und sagte mit Tränen in den Augen zu ihm:
»Großvater wäre stolz auf uns.«
Einer der technisch und politisch schwierigsten Prozesse in der verschwundenen Wissenschaft der Hutmacherei war das Maßnehmen. Laut Julián war Don Ricardo Aldayas Schädel von bäurischer Wuchtigkeit. Der Hutmacher war sich der Schwierigkeiten bewußt, kaum hatte er das Haupt des bedeutenden Mannes zu Gesicht bekommen, und als Julián am selben Abend sagte, der Kopf erinnere ihn an gewisse Formationen des Montserratgebirges, konnte Fortuny nur zustimmen.
»Vater, mit allem Respekt, Sie wissen, daß ich beim Maßnehmen eine geschicktere Hand habe als Sie, da Sie nervös werden. Lassen Sie mich machen,« Der Hutmacher willigte gern ein, und als Aldaya am nächsten Tag in seinem Mercedes vorfuhr, empfing ihn Julián und führte ihn ins Atelier. Sowie Aldaya sah, daß ihm ein vierzehnjähriger Junge Maß nehmen würde, brauste er auf: