»Julián Carax«, präzisierte Julián.
»Julián Carax«, wiederholte Aldaya zufrieden.
»Gefällt mir, wie es klingt. Das ist mein Sohn Jorge.« Julián reichte ihm die Hand, und Jorge ergriff sie. Es war ein schwammiger Händedruck. Nach einer Kindheit in dieser Puppenwelt war sein Gesicht blaß ziseliert. Er trug Kleider und Schuhe, die Julián wie aus einem Roman vorkamen. Sein Blick verriet Süffisanz und Anmaßung, Verachtung und zuckersüße Höflichkeit. Julián lächelte ihm offen zu, als er unter diesem Panzer von Gepränge und Würde Unsicherheit, Angst und Leere erkannte.
»Stimmt es, daß du keins dieser Bücher gelesen hast?«
»Bücher sind langweilig.«
»Bücher sind Spiegeclass="underline" Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat«, erwiderte Julián.Don Ricardo Aldaya lachte wieder.
»Nun, ich lasse euch allein, damit ihr euch kennenlernen könnt. Julián, du wirst sehen, daß Jorge unter dieser Maske des verzogenen, eingebildeten Jungen nicht so dumm ist, wie er ausschaut. Etwas von seinem Vater hat er schon.« Aldayas Worte schienen den Jungen wie Dolche zu treffen, aber sein Lächeln ging keinen Millimeter zurück. Julián bereute seine Antwort.
»Du bist bestimmt der Sohn des Hutmachers«, sagte Jorge ganz ohne Herablassung.
»In letzter Zeit spricht mein Vater oft von dir.«
»Das ist nur das Neue. Ich hoffe, du schenkst dem keine Beachtung. Unter dieser Maske des vorlauten Besserwissers bin ich nicht so idiotisch, wie ich ausschaue.« Jorge lächelte ihm zu. Julián dachte, er lächle wie Leute, die keine Freunde haben — dankbar.
»Komm, ich zeige dir den Rest des Hauses.« Sie verließen die Bibliothek Richtung Haupteingang und Park. Als sie durch den Saal gingen, schaute Julián am Fuß der Marmortreppe auf und erkannte den Hauch einer Gestalt, die mit der Hand auf dem Geländer hinanstieg. Er hielt den Atem an. Das Mädchen mußte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein und wurde von einer reifen, kleinen, rosigen Frau eskortiert, allem Anschein nach ihre Kinderfrau. Das Mädchen trug ein blaues Satinkleid. Ihr Haar war mandelfarben, und die Haut der Schultern und des schlanken Halses schien transparent zu sein. Oben an der Treppe blieb sie stehen und wandte sich für einen Augenblick um. Eine Sekunde lang trafen sich ihre Blicke, und sie schenkte ihm den Anflug eines Lächelns. Dann legte ihr die Kinderfrau den Arm um die Schultern und führte sie zur Schwelle eines Gangs, in dem die beiden verschwanden. Julián senkte die Augen und fand sich wieder mit Jorge.
»Das ist meine Schwester Penélope. Du wirst sie schon noch kennenlernen. Sie ist ein wenig überspannt. Den ganzen Tag liest sie. Na los, komm, ich werde dir die Kapelle im Keller zeigen. Die Köchinnen sagen, sie ist verhext.« Willig folgte ihm Julián, aber die Welt wankte unter ihm. Zum ersten Mal, seit er in Don Ricardo Aldayas Mercedes gestiegen war, begriff er, was da vor sich ging. Er hatte unzählige Male von ihr geträumt, von dieser Treppe, diesem blauen Kleid und diesem Blick, ohne zu wissen, wer sie war noch warum sie ihm zulächelte. Als sie in den Park hinaustraten, ließ er sich von Jorge zu den Garagen und Tennisplätzen führen, die sich jenseits erstreckten. Erst jetzt schaute er zurück und erblickte sie, in ihrem Fenster im zweiten Stock. Kaum konnte er ihre Gestalt richtig erkennen, aber er wußte, daß sie ihm zulächelte und daß auch sie ihn irgendwie wiedererkannt hatte.Die flüchtige Erscheinung Penélope Aldayas oben auf der Treppe begleitete ihn während seiner ersten Wochen in der San-Gabriel-Schule. Seine neue Welt hatte viele verschiedene Gesichter, und nicht alle sagten ihm zu. Die San-Gabriel-Schüler benahmen sich wie arrogante Fürsten, während ihre Lehrer so etwas wie gebildete Diener waren. Der erste Freund, den Julián dort außer Jorge Aldaya gewann, war ein Junge namens Fernando Ramos, Sohn eines der Köche der Schule, der sich nie ausgemalt hätte, daß er eines Tages eine Soutane tragen und in denselben Schulzimmern Unterricht erteilen würde, in denen er groß geworden war. Fernando, dem die andern den Spitznamen Topfgucker gaben und den sie wie einen Dienstboten behandelten, besaß eine wache Intelligenz, hatte aber kaum Freunde unter den Mitschülern. Sein einziger Kamerad war ein verrückter Junge namens Miquel Moliner, der mit der Zeit der beste Freund werden sollte, den Julián an dieser Schule überhaupt hatte. Miquel Moliner, mit zuviel Hirn und zuwenig Geduld ausgestattet, machte sich ein Vergnügen daraus, seine Lehrer zur Weißglut zu bringen, indem er ihre sämtlichen Ausführungen mit dialektischen Spielchen anzweifelte, die ebensoviel Witz wie Grausamkeit verrieten. Die andern fürchteten seine spitze Zunge und hielten ihn für einer andern Spezies zugehörig, was in gewisser Hinsicht nicht ganz abwegig war. Trotz seines bohemienhaften Äußeren und seines wenig aristokratischen Benehmens war Miquel der Sohn eines durch die Fabrikation von Waffen geradezu absurd reich gewordenen Industriellen.
»Carax, nicht wahr? Ich höre, daß dein Vater Hüte macht«, sagte er, als Fernando Ramos sie einander vorstellte.
»Julián für meine Freunde. Ich höre, daß deiner Kanonen macht.«
»Er verkauft sie bloß. Was das Machen betrifft, so weiß er nichts anderes zu machen als Geld. Meine Freunde, zu denen ich nur Nietzsche und den Genossen Fernando da zähle, nennen mich Miquel.« Miquel Moliner war ein trauriger Junge. Er war in ungesunder Weise vom Tod und allen damit zusammenhängenden Themen besessen, auf deren Betrachtung er einen Großteil seiner Zeit und seines Talents verwandte. Drei Jahre zuvor war seine Mutter bei einem merkwürdigen häuslichen Unfall ums Leben gekommen, den ein unbesonnener Arzt als Selbstmord zu bezeichnen wagte. Miquel hatte die Leiche gefunden, die im tiefen Brunnenwasser des kleinen Sommerpalastes schimmerte, welchen die Familie in Argentona besaß. Als man sie an Seilen heraufzog, zeigte sich, daß die Taschen des Mantels der Toten mit Steinen gefüllt waren. Weiter fand sich ein in ihrer Muttersprache Deutsch geschriebener Brief, doch Señor Moliner, der sich nie die Mühe gemacht hatte, diese Sprache zu erlernen, verbrannte ihn noch am selben Abend, ohne daß ihn jemand lesen durfte. Überall sah Miquel Moliner den Tod, im dürren Laub, in den aus ihren Nestern gefallenen Vögeln, in den Alten und im Regen, der alles wegschwemmte. Er besaß ein außergewöhnliches Zeichentalent, und manchmal verlor er sich stundenlang in Kohleillustrationen, auf denen zwischen Nebelschwaden und menschenleeren Stränden immer eine Dame erschien, in der Julián seine Mutter vermutete.
»Was willst du werden, wenn du älter bist, Miquel?«
»Ich werde nie älter werden«, sagte er.Seine größte Liebe, außer zu zeichnen und jedem lebenden Geschöpf zu widersprechen, galt den Werken eines geheimnisvollen österreichischen Arztes, der mit den Jahren Berühmtheit erlangen sollte: Sigmund Freud. Miquel Moliner, der dank seiner verstorbenen Mutter perfekt Deutsch las und schrieb, besaß mehrere Bände mit Schriften des Wiener Arztes. Sein Lieblingsgebiet war die Traumdeutung. Miquel pflegte die Leute nach ihren Träumen zu fragen, um dann eine Diagnose der unverhofften Patienten vorzunehmen. Immer sagte er, er werde jung sterben und es mache ihm nichts aus. Da er soviel an den Tod dachte, hatte er in ihm schließlich, wie Julián annahm, mehr Sinn gefunden als im Leben.
»An dem Tag, an dem ich sterbe, wird alles, was mein ist, dein sein, Julián«, sagte er.
»Nur nicht die Träume.« Außer mit Fernando Ramos, Miquel Moliner und Jorge Aldaya machte Julián bald die Bekanntschaft eines schüchternen, etwas widerborstigen Jungen namens Javier, des einzigen Sohns des Hausmeisterehepaars von San Gabriel, das in einem bescheidenen Häuschen beim Eingang zu den Gärten der Schule wohnte. Javier, in dem die andern Jungen genauso wie in Fernando mehr oder weniger einen unerwünschten Lakaien sahen, strich allein in den Gärten und Höfen des Geländes umher, ohne mit jemandem Kontakt zu knüpfen. So hatte er sich sämtliche Schlupfwinkel des Hauses, die unterirdischen Tunnel, die zu den Türmen emporführenden Gänge und allerlei labyrinthische Verstecke angeeignet, an die sich niemand mehr erinnerte. Das war seine geheime Welt, seine Zuflucht. Immer hatte er ein aus den Schubladen seines Vaters entwendetes Taschenmesser bei sich, mit dem er gern Holzfiguren schnitzte, die er im Taubenschlag der Schule verwahrte. Sein Vater Ramón, der Hausmeister, war ein Veteran aus dem Kubakrieg, in dem er eine Hand und, wie böswillig gemunkelt wurde, durch einen Schrotschuß den rechten Hoden verloren hatte. In der festen Überzeugung, Müßiggang sei aller Laster Anfang, hatte Ramón der Eineier, wie ihn die Schüler betitelten, seinen Sohn damit beauftragt, die dürren Nadeln des Pinienwäldchens und das Laub im Brunnenhof in einem Sack zu sammeln. Ramón war ein guter Mensch, etwas ungehobelt und unseligerweise dazu verdammt, sich schlechte Gesellschaft auszusuchen. Die schlimmste war seine Frau. Der Eineier hatte ein beschränktes Mannweib mit Prinzessinnenfantasien und dem Aussehen einer Putze geheiratet, die sich mit Vorliebe leichtbekleidet ihrem Sohn und den Schülern zeigte, welche Schauerposse Anlaß zu allwöchentlicher Gaudi gab. Mit Vornamen hieß sie María Craponcia, aber sie nannte sich Yvonne, das erschien ihr stilvoller. Sie pflegte ihren Sohn über die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs auszufragen, die ihm die Freundschaften verschafften, welche er vermeintlich mit der Crème der Barceloneser Gesellschaft knüpfte. Sie horchte ihn über das Vermögen von diesem und jenem aus und stellte sich schon vor, wie sie, wundersam herausgeputzt, in den großen Salons der guten Gesellschaft zu Tee und Blätterteiggebäck eingeladen wurde.Javier verbrachte sowenig Zeit wie möglich zu Hause und war dankbar für die Aufgaben, die ihm sein Vater übertrug, so hart sie auch sein mochten. Jeder Vorwand war recht, um allein zu sein, um in seine Geheimwelt zu entwischen und seine Holzfiguren zu schnitzen. Wenn ihn die Mitschüler von weitem erblickten, lachten einige oder warfen mit Steinen nach ihm. Als Julián eines Tages sah, wie ihm ein Stein die Stirn aufschlug und ihn zu Boden warf, verspürte er solches Mitleid mit ihm, daß er ihm zu Hilfe eilte und ihm seine Freundschaft antrug. Zuerst dachte Javier, Julián wolle ihm noch den Rest geben, während sich die andern vor Lachen kugelten.