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»Sie haben noch Kontakt zu Jacinta?«

»Ich besuche sie manchmal im Santa-Lucía-Altenheim. Sie hat niemanden. Aus Gründen, die unserem Begriffsvermögen nicht zugänglich sind, belohnt uns der Herr nicht immer bei Lebzeiten. Jacinta ist schon sehr alt und noch so allein, wie sie es immer war.« Fermín und ich wechselten einen Blick.

»Und Penélope? Haben Sie sie nie besucht?« Pater Fernandos Blick war ein schwarzer Abgrund.

»Niemand weiß, was aus Penélope geworden ist. Dieses Mädchen war Jacintas Leben. Als die Aldayas nach Amerika auswanderten, hat sie mit ihr alles verloren.«

»Warum haben sie sie denn nicht mitgenommen? Ist Penélope ebenfalls nach Amerika gegangen, mit den übrigen Aldayas?« fragte ich.Der Priester zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht. Nach 1919 hat niemand Penélope wiedergesehen oder von ihr gehört.«

»Das Jahr, in dem Carax nach Paris gegangen ist«, stellte Fermín fest.

»Sie müssen mir versprechen, daß Sie diese arme Greisin nicht belästigen werden, um schmerzhafte Erinnerungen auszugraben.«

»Wofür halten uns Herr Pfarrer?« fragte Fermín.In der Vermutung, er werde nichts mehr aus uns herausbringen, ließ uns Pater Fernando schwören, daß wir ihn über die Ergebnisse unserer Nachforschungen auf dem laufenden halten würden. Um ihn zu beruhigen, wollte Fermín unbedingt auf ein Neues Testament schwören, das auf seinem Schreibtisch lag.

»Lassen Sie die Evangelien in Frieden. Ihr Wort genügt mir.«

»Sie lassen sich nicht über den Tisch ziehen, wie, Pater? Sehr clever!«

»Kommen Sie, ich bringe Sie zum Ausgang.« Er führte uns durch den Garten zum Tor und blieb in angemessenem Abstand zum Ausgang stehen, während er die Straße betrachtete, die sich zur realen Welt bergab schlängelte, als fürchtete er, sich zu verflüchtigen, wenn er sich einige Schritte weiter vorwagte. Ich fragte mich, wann er zum letzten Mal das Gelände der San-GabrielSchule verlassen haben mochte.

»Es hat mir sehr leid getan, als ich erfuhr, daß Julián gestorben war«, sagte er leise.

»Trotz allem, was nachher geschehen ist, und obwohl wir uns mit der Zeit voneinander distanziert haben, waren wir gute Freunde: Miquel, Aldaya, Julián und ich. Sogar Fumero. Ich habe immer gedacht, wir wären unzertrennlich, aber das Leben scheint etwas zu wissen, was wir nicht wissen. Ich habe nie wieder Freunde gehabt wie diese und glaube auch nicht, daß ich noch einmal welche haben werde. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen, Daniel.«

12

Es ging gegen zehn Uhr, als wir auf den Paseo de la Bonanova gelangten, jeder in seine Gedanken zurückgezogen. Ich hatte keinen Zweifel, daß diejenigen Fermíns um das unselige Erscheinen Inspektor Fumeros in der Geschichte kreisten. Ich blickte ihn verstohlen an und sah, daß sein Gesicht von Unruhe zerquält war. Ein dunkelvioletter Wolkenschleier breitete sich aus und gab den Lichtstrahlen die Farbe dürren Laubs.

»Wenn wir uns nicht sputen, werden wir ordentlich naß«, sagte ich.

»Noch nicht. Diese Wolken sehen nach Nacht, nach Quetschwunde aus. Sie gehören zu denen, die sich Zeit lassen.«

»Sagen Sie nicht, Sie verstehen auch von Wolken etwas.«

»Das Leben auf der Straße lehrt einen mehr, als man eigentlich wissen möchte. Was meinen Sie, wenn wir in das Lokal auf der Plaza de Sarriá gehen und zwei TortillaSandwiches mit ganz viel Zwiebeln futtern? Der bloße Gedanken an Fumero hat mich schrecklich hungrig gemacht.« Wir schlugen den Weg zum Platz ein, wo eine Schar Opas mit dem örtlichen Taubenschlag kokettierte und das Leben auf ein Spiel von Brosamen und Warten reduzierte. Wir setzen uns an einen Tisch neben der Kneipentür, und Fermín verschlang die beiden Sandwiches, seines und meines, trank ein Bier vom Faß, einen Espresso mit Milch und Rum und dazu die zwei Schokoladenplätzchen. Als Nachspeise lutschte er eins seiner Bonbons. Am Nachbartisch beobachtete ein Mann Fermín über den Rand der Zeitung hinweg und dachte wahrscheinlich dasselbe wie ich.

»Ich weiß nicht, wo Sie das alles hintun, Fermín.«

»Ich hatte schon immer einen enormen Stoffwechsel. Meine Mutter hat mich oft gefragt, ob vielleicht ein Zwilling in mir mitißt. Sie mußte immer doppelt auftischen.«

»Vermissen Sie sie?«

»Meine Mutter«? Mit einem Lächeln zuckte er die Schultern.

»Was weiß ich. Wenige Dinge sind trügerischer als die Erinnerungen. Und Sie? Vermissen Sie Ihre Mutter?« Ich senkte die Augen.

»Sehr.«

»Wissen Sie, woran ich mich bei meiner am besten erinnern kann? An ihren Geruch. Sie hat immer ganz sauber gerochen, nach süßem Brot, egal, ob sie auf dem Feld gearbeitet hatte oder tagaus, tagein dieselben Kleider trug. Sie hat immer nach allem Guten gerochen, das es auf dieser Welt gibt. Dabei war sie ein Grobian. Sie hat geflucht wie ein Fuhrmann, aber gerochen wie eine Märchenprinzessin. Wenigstens ist es mir so vorgekommen. Und Sie? Woran erinnern Sie sich am meisten bei Ihrer Mutter?« Ich zögerte einen Augenblick und klaubte die Worte zusammen.

»An nichts. Ich kann mich seit Jahren nicht mehr an meine Mutter erinnern. Weder an ihr Gesicht noch an ihre Stimme oder ihren Geruch. Das ist mit dem Tag verschwunden, an dem ich Julián Carax entdeckt habe, und es ist nicht wiedergekommen.« Fermín schaute mich etwas ungläubig an und wog seine Antwort ab.

»Haben Sie denn kein Bild von ihr?«

»Ich habe die Bilder nie anschauen mögen.«

»Warum nicht?« Noch nie hatte ich das jemandem erzählt, nicht einmal meinem Vater oder Tomás.

»Weil es mir Angst macht. Es macht mir Angst, ein Bild meiner Mutter zu suchen und eine Fremde in ihr zu entdecken. Sie finden das bestimmt dumm.« Er schüttelte den Kopf.

»Und darum denken Sie, wenn Sie das Geheimnis von Julián Carax ergründen können und ihn der Vergessenheit entreißen, wird das Gesicht Ihrer Mutter zurückkehren?« Ich schaute ihn schweigend an. In seinem Blick lag weder Ironie noch ein Urteil. Einen Moment lang erschien mir Fermín Romero de Torres als der scharfsinnigste und weiseste Mensch der Welt.

»Vielleicht«, sagte ich schließlich.Punkt zwölf Uhr nahmen wir einen Bus zurück ins Stadtzentrum. Wir setzten uns vorne hin, direkt hinter den Fahrer, was Fermín nutzte, um mit ihm ein Gespräch über die vielen technischen und hygienischen Fortschritte zu beginnen, die er beim oberirdischen öffentlichen Verkehr feststellte, seit er ihn 1940 letztmals benutzt hatte, insbesondere bezüglich der Beschilderung, wie eine Tafel mit den Worten Spucken und zotiges Reden verboten bezeugte. Fermín studierte sie und erwies ihr seine Reverenz, indem er geräuschvoll einen kräftigen Auswurf von sich gab, was uns die bitterbösen Blicke eines Kommandos von drei Duttträgerinnen eintrug, die, mit Meßbüchern ausgerüstet, im hinteren Teil mitfuhren.

»Rüpel«, murmelte die eine Frömmlerin, die erstaunlich dem offiziellen Bild von General Yagüe glich.

»Da hast du sie«, sagte Fermín.

»Drei Heilige hat mein Spanien: die heilige Empörung, die eisheilige Jungfer und die heilige Zimperliese. Alle gemeinsam haben wir aus diesem Land einen Witz gemacht.«

»Recht haben Sie«, stimmte der Fahrer bei.

»Unter Azaña war alles besser. Vom Verkehr gar nicht zu reden. Es ist zum Kotzen.« Ein weiter hinten sitzender Mann lachte über den Gedankenaustausch. Ich erkannte in ihm den Beobachter vom Nebentisch in der Kneipe. Sein Ausdruck schien anzudeuten, daß er auf Fermíns Seite war und gern gesehen hätte, wie der seine Wut an den drei Frauen ausließ. Ich wechselte einen kurzen Blick mit ihm. Er lächelte mir freundlich zu und schaute dann wieder in seine Zeitung. Als wir in die Calle Ganduxer kamen, sah ich, daß sich Fermín in seinen Mantel eingekuschelt hatte und mit offenem Mund und glückseligem Gesicht ein Nickerchen machte. Der Bus rollte durch die geschniegelte Herrschaftlichkeit des Paseo de San Gervasio, als Fermín plötzlich hochfuhr.