»Man darf uns nicht zusammen sehen, Daniel. Nicht so, auf offener Straße.«
»Wenn du willst, können wir in die Buchhandlung hineingehen, im Hinterraum steht eine Kaffeemaschine, und…«
»Nein. Ich will nicht, daß mich jemand hier hineingehen oder herauskommen sieht. Wenn mich jetzt jemand mit dir plaudern sieht, kann ich immer noch sagen, ich habe zufällig den besten Freund meines Bruders getroffen. Wenn man uns zweimal zusammen ertappt, erregen wir Verdacht.« Ich seufzte.
»Wer soll uns denn sehen? Wen geht es etwas an, was wir tun?«
»Die Leute haben immer Augen für das, was sie nichts angeht, und mein Vater kennt halb Barcelona.«
»Warum bist du denn hergekommen und wartest auf mich?«
»Ich bin nicht gekommen, um auf dich zu warten. Ich bin zur Messe gegangen, erinnerst du dich? Du hast es eben selbst gesagt. Zwanzig Meter von hier…«
»Du machst mir Angst, Bea. Du lügst ja noch besser als ich.«
»Du kennst mich nicht, Daniel.«
»Das sagt dein Bruder.« Unsere Blicke trafen sich in der Fensterscheibe.
»Du hast mir neulich abends etwas gezeigt, was ich noch nie gesehen hatte«, murmelte sie.
»Jetzt bin ich dran.« Ich runzelte gespannt die Stirn. Bea öffnete ihre Tasche, zog ein zusammengefaltetes Kärtchen heraus und gab es mir.
»Du bist nicht der einzige, der die Geheimnisse von Barcelona kennt, Daniel. Ich habe eine Überraschung für dich. Ich erwarte dich heute nachmittag um vier an dieser Adresse. Niemand darf wissen, daß wir dort verabredet sind. Wenn du nicht kommst, werde ich es verstehen«, sagte sie.
»Ich werde verstehen, daß du mich nicht mehr sehen willst.« Ohne mir auch nur eine Sekunde Zeit für eine Antwort zu geben, machte sie kehrt und ging behenden Schrittes Richtung Ramblas davon. Ich schaute ihr nach, bis ihre Gestalt in dem grauen Halbdunkel verschmolz, das dem Gewitter vorausging. Ich klappte das Kärtchen auf. Darauf stand in blauer Schrift eine mir wohlvertraute Adresse:
Avenida del Tibidabo 32
13
Das Gewitter wartete nicht auf den Einbruch der Dunkelheit, um loszudonnern. Die ersten Blitze zuckten, kurz nachdem ich in einen Bus der Linie 22 gestiegen war. Als wir um die Plaza Molina herum die Balmes hinauffuhren, verschwamm die Stadt schon hinter flüssigen Vorhängen, und mir kam in den Sinn, daß ich nicht einmal vorsorglich einen Schirm mitgenommen hatte.
»Mutig, mutig«, murmelte der Fahrer, nachdem ich Anhalten verlangt hatte.Es war bereits zehn nach vier, als mich der Bus im verlorenen obersten Stück der Balmes im Unwetter stehenließ. Die Avenida del Tibidabo gegenüber war unter dem Bleihimmel nur eine wäßrige Andeutung. Ich zählte bis drei und lief unter dem Regen los. Naß bis aufs Mark und zitternd vor Kälte, blieb ich nach wenigen Minuten im Schutz eines Hauseingangs stehen, um Atem zu schöpfen. Ich erforschte den Rest des Weges. Der Eishauch des Gewitters verschleierte grau die gespenstischen Konturen von Palästen und Villen. Unter ihnen erhob sich inmitten der gezausten Bäume einsam der dunkle Turm des Aldaya-Hauses. Ich strich mir die klatschnassen Haare aus den Augen und lief los, quer über die menschenleere Avenida zu ihm hinüber.Das Türchen im Gittertor wiegte sich im Wind. Auf der andern Seite schlängelte sich ein schmaler Weg zur Villa hinauf. Ich schlüpfte durch das Türchen auf das Grundstück. Zwischen dem Unkraut erahnte man die Sockel roh entthronter Statuen. Als ich mich dem Haus näherte, sah ich, daß eine von ihnen, ein Engel der Läuterung, zuoberst im Park verloren in einem Bassin lag. Unter der jetzt überfließenden Wasseroberfläche glitzerte die schwärzliche Gestalt geisterhaft. Die Hand des Feuerengels ragte aus dem Wasser; ein anklagender Zeigefinger, spitz wie ein Bajonett, wies auf den Haupteingang. Die gearbeitete Eichentür war angelehnt. Ich stieß sie auf und wagte mich ein paar Schritte in eine höhlenartige Vorhalle hinein. Die Wände schienen unter der Berührung einer Kerze zu schwanken.
»Ich dachte schon, du würdest nicht kommen«, sagte Bea.Ihre Silhouette hob sich vom Halbdunkel in einem Flur ab, an dessen Ende sich fahl erleuchtet eine Galerie auftat. Sie saß auf einem Stuhl an der Wand, eine Kerze zu den Füßen.
»Schließ die Tür«, bedeutete sie mir, ohne aufzustehen.
»Der Schlüssel steckt im Schloß.« Ich gehorchte. Das Schloß knarrte mit Grabesecho. Ich hörte Beas Schritte hinter mir näher kommen und spürte ihre Berührung an meinen nassen Kleidern.
»Du zitterst ja. Vor Angst oder vor Kälte?« Ich wandte mich zu ihr um und sagte:
»Das habe ich noch nicht entschieden. Wozu sind wir hier?« Sie lächelte und nahm mich bei der Hand.
»Weißt du es denn nicht? Ich dachte, du hättest es erraten…«
»Das war das Haus der Aldayas, das ist alles, was ich weiß. Wie bist du hereingekommen, und woher hast du gewußt…?«
»Komm, wir machen ein Feuer, damit dir wieder warm wird.« Sie führte mich durch den Korridor an den Fuß der Galerie, die den Saal des Hauses beherrschte. Dieser reckte sich in Marmorsäulen und kahlen Mauern zur Täfelung einer stückweise abgebröckelten Decke empor. Man erahnte die Rahmen von Bildern und Spiegeln, die vor Zeiten die Wände bedeckt hatten, sowie die Spuren von Möbeln auf dem Marmorboden. Am einen Ende des Saals lagen in einem Kamin einige Scheite bereit. Neben einem Schürhaken türmte sich ein Stapel alter Zeitungen. Der Kamin roch nach frischem Feuer und Kohlenstaub. Bea kniete vor ihm nieder und stopfte mehrere Zeitungsseiten zwischen die Scheite. Mit einem Streichholz steckte sie sie in Brand, und rasch bildete das Feuer einen Kranz. Kundig schoben ihre Hände das Holz zurecht. Vermutlich dachte sie, ich verzehre mich vor Neugier und Ungeduld, aber ich setzte ein desinteressiertes Gesicht auf, das zeigen sollte, daß sie, wenn sie mit mir geheimniskrämern wollte, den kürzeren ziehen würde. Sie lächelte triumphierend. Wahrscheinlich wertete das Zittern meiner Hände mein Ansehen nicht gerade auf.
»Kommst du oft hierher?« fragte ich.
»Heute zum ersten Mal. Gespannt?«
»Ein klein wenig.« Sie kniete wieder vor dem Feuer nieder, zog eine Wolldecke aus einer Segeltuchtasche und breitete sie aus. Sie roch nach Lavendel.
»Komm, setz dich hierher ans Feuer, nicht daß du meinetwegen noch eine Lungenentzündung kriegst.« Die Wärme des Kamins gab mir das Leben zurück. Schweigend, verzaubert schaute Bea in die Flammen.
»Wirst du mir das Geheimnis erzählen?« fragte ich schließlich.Sie setzte sich auf einen der Stühle. Ich blieb dicht am Feuer sitzen und schaute zu, wie der Dampf aus meinen Kleidern aufstieg.
»Was du das Aldaya-Haus nennst, hat eigentlich einen richtigen Namen, nämlich Nebelburg, aber das weiß fast niemand. Seit fünfzehn Jahren versucht das Büro meines Vaters, diesen Besitz zu verkaufen, erfolglos. Als du mir neulich die Geschichte von Julián Carax und Penélope Aldaya erzählt hast, habe ich nicht weiter darauf geachtet. Später, am Abend zu Hause, ist mir einiges aufgegangen, und ich habe mich daran erinnert, daß ich meinen Vater einmal von der Familie Aldaya habe sprechen hören, und zwar von diesem Haus. Gestern bin ich in sein Büro gegangen, und sein Sekretär, Casasús, hat mir die Geschichte des Hauses erzählt. Hast du gewußt, daß das in Wirklichkeit gar nicht ihr offizieller Wohnsitz war, sondern eines ihrer Sommerhäuser?« Ich verneinte.
»Das Haupthaus der Aldayas war ein Palast, der 1925 abgerissen wurde, um einem Mietshaus Platz zu machen, an der heutigen Kreuzung der Calle Bruch und der Calle Mallorca. Dieses Haus war im Auftrag des Großvaters von Penélope und Jorge, Simón Aldaya, 1896 von Puig i Cadafalch erbaut worden, als es dort nichts als Felder und Bewässerungskanäle gab. Die Nebelburg hingegen hatte der älteste Sohn des Patriarchen Simón, Don Ricardo Aldaya, in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts einem höchst pittoresken Mann abgekauft — zu einem Spottpreis, denn das Haus hatte einen üblen Ruf. Casasús meinte, es sei verflucht und nicht einmal die Verkäufer würden sich herwagen, um es zu zeigen, und sich unter irgendwelchen Vorwänden verdrücken…«